Babys und Kleinkinder, die kurz vor oder während der Pandemie geboren wurden, haben einen ganz anderen Start ins Leben gehabt, als Kinder in den Jahren vor ihnen. Statt in Spielgruppen oder beim Babyschwimmen verbrachten sie vor allem viel Zeit zuhause. Welche Auswirkungen hat das auf ihre Entwicklung? Und müssen Eltern mit negativen Folgeerscheinungen rechnen? Beruhigende Antworten von Pädagogik-Professorin Dagmar Bergs-Winkel.
Viele Eltern besuchten im ersten Lebensjahr zahlreiche Kurse – Babymassage, Babyschwimmen, PeKip oder Delfi zum Beispiel, die die kindliche Entwicklung fördern sollen. Was weiß die Forschung über die positiven Effekte solcher Eltern-Kind-Kurse?
Dagmar Bergs-Winkels: Tatsächlich sind der Markt und die Ansätze der Angebote sehr unübersichtlich, die Qualität schwankt entsprechend. Studien, die besonders positive Effekte auf die kindliche Entwicklung zeigen, gibt es bisher nur bedingt und nicht im Sinne eines Überblicks.
Trotzdem halte ich diese Kurse für sinnvoll. Sie sind eine gute Unterstützung für junge Eltern. Sie treffen dort auf andere Mütter und Väter, können sich austauschen und lernen ihre Kinder nochmal aus anderen Blickwinkeln kennen. Erfahrene Kursleiterinnen informieren über nächste Entwicklungsschritte, zeigen sinnvolle Beschäftigungsideen oder helfen so elterliche Ängste und Sorge abzubauen.
Und die Kurse geben einen ganz fokussierten Blick auf die Kinder – ohne Ablenkung durch Geschwister oder das Essen, was gekocht werden muss. Das ist auch mal schön für die Eltern.
Manchmal ist auch ein zusätzlicher, fachkundiger Blick auf das Kind auch hilfreich, um Fehlhaltungen, Entwicklungsverzögerungen oder im schlimmsten Fall auch Gewalt und Missbrauch zu entdecken. Auch dafür sind Kurse oder Kontrolluntersuchungen beim Kinderarzt gut.
Neben Kursen fallen auch Kontakt zu anderen Babys weg. Wie wichtig sind Interaktionen untereinander bei den ganz Kleinen?
Dagmar Bergs-Winkels: Lange nahm man an, dass Kinder erst ab dem dritten Lebensjahr bewusst Kontakte zu anderen Kindern aufnehmen. Inzwischen wissen wir, dass schon Säuglinge sehr soziale Wesen sind und das „voneinander und miteinander lernen“ viel früher einsetzt. Viele Eltern erleben große Entwicklungssprünge in den ersten Wochen und Monaten in der Krippe. Das liegt auch an den neuen Vorbildern, neuen Freundschaft und der Interaktion im Spiel.
So komplexe soziale Interaktionen gibt es bei Babys vielleicht nicht, aber sie haben auch Interesse aneinander und gehen auch soziale Bindungen ein, neben Eltern auch zu Geschwistern oder Großeltern. Diese engen Beziehungen zu Familienmitgliedern sind aber deutlich wichtiger als erste „Babyfreundschaften“ in der Krabbelgruppe.
Enge Beziehungen zu Familienmitgliedern sind (...) deutlich wichtiger als erste „Babyfreundschaften“ in der Krabbelgruppe.
Also sind die Eltern als Bezugspersonen völlig ausreichend, jedenfalls in einem ersten Lebensjahr im Corona-Lockdown?
Dagmar Bergs-Winkels: Ja, das könnte man so sagen. Es gibt diverse Studien zu den Auswirkungen von Lockdown und Kontaktbeschränkungen auf Kinder. Allerdings werden die ganz kleinen Kinder nur bedingt in den Blick genommen, eine Ausnahme ist eine Studie der Uni Bochum.
Etwa ein Drittel der Eltern haben in dieser Befragung angeben, dass auch ihre Babys schlechter schlafen oder sensibler auf neue Situationen wie einen Kinderarztbesuch reagieren. Das zeigt, wie sensibel die Babys auf das Befinden ihrer Eltern reagieren. Wenn diese gut durch die Zeit kommen und Routinen im Lockdown gefunden haben, dann überträgt sich das auch auf das Wohlbefinden des Nachwuchses. Gibt es in der Familie dagegen finanziellen Sorgen oder keinen richtigen Alltag, hat das auch Auswirkungen auf die Kinder. Ihre Unruhe spiegelt hier deutlich die Anspannung der Eltern. Das gilt auch schon für die ganz Kleinen.
Bei den Kita-Kindern kommt zusätzlich natürlich auch der Wegfall von Freunden und den Kontakt zu Gleichaltrigen hinzu. Ihnen fehlen der Input und der Austausch mit anderen deutlich stärker als den Babys.
Könnte ein Wegfall vielfältiger sozialer Kontakte während des Lockdowns Auswirkungen auf die anstehende Kita-Eingewöhnungen haben? Meinem eigenen Sohn fiel der Schritt ins Kita-Leben dank zahlreicher Krabbelgruppen und Babyschwimmen gefühlt leichter.
Dagmar Bergs-Winkels: Kindern, die schon vor der Krippe oder dem Kindergarten vielfältige soziale Kontakte hatten, fällt die Eingewöhnung oft leichter. Hier könnte sich der Corona-bedingte Ausfall von Kursen hier und da schon bemerkbar machen. Aber aus meiner Sicht werden die Folgen überschaubar zu sein. Viele Eltern haben sich ja „Abhilfe“ geschaffen, zum Beispiel durch den Kontakt zu Großeltern oder Verwandten.
Ich habe auch schon öfter gehört, dass sich viele Elternzeit-Tandems zum Spielen gefunden haben. Auch das ist eine soziale Interaktion, von der die Kinder profitieren. Da ist der Faktor Stress schon bedenklicher.
Welche Folgen kann dieser Stress für die frühkindliche Entwicklung haben?
Dagmar Bergs-Winkels: Es gibt noch keine Studien zu den Langzeitfolgen des Corona-Stress. Im Moment kennen wir nur die Momentaufnahmen und unmittelbaren Folgen, wie Unruhe oder eben eine höhere Sensibilität bei ungewohnten Situationen.
Gleichzeitig ist die Resilienz im Kleinkindalter erstaunlich hoch. In vielen Familien war die Unsicherheit auch kein Dauerzustand. Oft entstanden schnell Routinen und ein neuer Alltag. Es gibt sogar positive Effekte, wie Väter, die nun präsenter waren. Solange die Babys und Kleinkinder wirklich feste und verlässliche Bezugspersonen hatten, sehe ich da keine größere Gefahr für Langzeitfolge.
Viel größere Sorgen macht mir der Anstieg von Gewalt gegenüber Kindern, mit vermutlich einer hohen Dunkelziffer. Das Erleben von körperlicher oder psychischer Gewalt hat nämlich gravierende Folgen für die kindliche Entwicklung, auch schon mit Säuglingsalter. Und hier wären wir wieder beim fehlenden Blick von außen, der Warnsignal früh genug erkennt und eingreifen kann.
Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Antworten, liebe Frau Bergs-Winkel!
Dagmar Bergs-Winkels ist Professorin für Kindheitspädagogik und Prorektorin für Studium und Lehre an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Die Erziehungswissenschaftlerin arbeitet untern anderem zu Begabungsförderung im Vorschulischen Bereich, früher Bildung und Qualitative und Quantitative Forschungsmethoden.
Über Dagmar Bergs-Winkels
Bücher von Dagmar Berg-Winkels
Video: 5 Tipps, wenn ihr mit dem Baby per Flugzeug verreisen wollt
Mein Fazit
Für die meisten Babys hatten Lockdown und Kontaktbeschränkungen zum Glück weniger Auswirkungen als befürchtet. Das ist eine gute Nachricht. Für alle andere Kinder und Jugendlichen waren die Folgen oft dramatischer, fehlende Kontakte zu Gleichaltrigen, fehlende Sportkurse, fehlende Alltagsroutine haben Spuren hinterlassen.
Von einer Corona-Generation zu sprechen, wäre sicher fehl am Platz, nicht aber der Blick darauf, dass von Seiten der Politik keine Konsequenz aus diesen Erkenntnissen gezogen wird. Neue Wellen zeichnen sich ab, trotzdem fehlen weiter Luftfilter oder andere Öffnungskonzepte für Kitas und Schulen, trotzdem fehlen Daten zu Impfungen bei Kindern. Hier muss dringend etwas passieren.
Bildquelle: Getty Images/Westend61, Verena Mörath