Gehören die gefühlten Wutausbrüche, die Babys im 1. Lebensjahr haben, wirklich schon zur Trotzphase? Die Antwort lautet Jein. Die eigentliche Autonomiephase beginnt nämlich erst gegen Mitte des 2. Lebensjahres. Aber das zu wissen, ändert natürlich nichts an der Herausforderung und dem Gefühl, das Eltern haben. Was eurem Baby und euch wirklich weiter hilft – von einem besseren Verständnis bis hin zu Experten-Tipps.
Eins vorab: Babys weinen, wenn ein Grundbedürfnis nicht erfüllt ist, nicht aus "Trotz", Wut oder um uns zu ärgern. Zugegeben, das kann uns Eltern trotzdem an unsere Grenzen bringen, insbesondere bei Babys, die sehr viel schreien. Das Wichtigste: Fühlt ihr euch hilflos oder super überfordert, legt euer Baby sicher ab und nehmt euch kurz aus der Situation heraus, um durchzuatmen. Niemals ein weinendes Baby schütteln! Bittet rechtzeitig um Hilfe. Unten im Artikel findet ihr Nummern und Adressen.
Können Babys trotzig sein?
Nein, Babys im engeren Sinne, also Kinder bis zum ersten Lebensjahr, zeigen noch kein "trotziges" Verhalten. Das, was Expert*innen früher als Trotz – und heute passender als Autonomiephase bezeichnen, beginnt meist erst ab einem Alter von 18 Monaten bis 3 Jahren, wenn ein Kind seinen eigenen Willen entwickelt. Was wir Eltern mitunter als Trotz interpretieren, ist auch hier eigentlich der Ausdruck von Bedürfnissen, Frustration oder Unwohlsein.
Was, wenn Babys gefühlt "trotzig" sind?
Große Gefühle sind von Anfang an in jedem von uns angelegt: von unbändiger Wut bis hin zur unbeschwerten Freude. Gerade Wut und Enttäuschung stellen uns Eltern aber oft schon früh auf die Probe (auch, weil wir selbst damit oft gar nicht so easy umgehen können).
- Im 1. Babyjahr: Die ersten „großen Gefühle“ entstehen, wenn die Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden: Ein Baby, das bei Hunger nicht gleich gefüttert, bei Müdigkeit nicht auf den Arm genommen und bei einem „Aua“ nicht getröstet wird, ballt die Fäustchen und schreit. Allerdings nicht vor Wut, sondern aus Selbsterhaltungstrieb.
- Ab ca. 18 Monaten: Nun erwacht der eigene Wille, aber das Kind stößt in seinem Können an Grenzen. Typisch ist auch das Bedürfnis, etwas haben zu wollen, aber nicht (sofort) zu bekommen. Das enttäuscht und stresst das Kind, was ja auch wir Erwachsenen gut nachfühlen können. Besonders, wenn wir unserem weinenden Mini-me nicht helfen können. Wichtig ist dann erst einmal zu verstehen, was gerade das Problem sein könnte.
Mögliche Gründe, weshalb Babys gefühlt "trotzig" sind
- Babys und Kleinkinder haben noch kein Zeitgefühl. Sie kennen die Vergangenheit nur vage und können die Zukunft nicht abschätzen. Umso mehr spielt sich ihr ganzes Empfinden im Hier und Jetzt ab. Und das kann zu Alarm führen: Gerade Säuglinge sind ja komplett auf ihre Bezugspersonen angewiesen, da ist die Bedürfniserfüllung überlebenswichtig.
- Müde, hungrig, überfordert: Die meisten Meltdowns entstehen in Situationen, in denen Kinder müde, hungrig oder überfordert sind. Auch das kennen viele Eltern von sich selbst. Oder das:
- Fehlendes Verständnis frustriert: Aka: Warum will meine Bezugsperson einfach nicht verstehen, was ich will? Das passiert selbst den einfühlsamsten Eltern: Denn die Vorstellung davon, was das Kind möchte, hat es klar im Kopf – Mama oder Papa können aber keine Gedanken lesen. Zum Glück spielt sich das mit dem "Ah, das willst du jetzt" oft ziemlich schnell ein, weil Eltern lernen, das Weinen ihres Babys leichter zu deuten.
- Das Streben nach Autonomie: Der Wunsch, etwas allein zu schaffen, funktioniert im Kopf prima, in der motorischen Umsetzung aber leider oft noch nicht. Das Ergebnis für Kids ab ca. 18 Monaten: Frust und Wut aus einer Situation der Überforderung.
- Verbote: Auch im Alter von zwölf bis 18 Monaten frustrieren Verbote. Typisch: Am Esstisch liegt ein Messer unverhofft in Reichweite. Der Reiz ist groß, danach zu greifen und es zu untersuchen, vor allem die blitzende, scharfe Klinge. Und wenn der gerade erworbene Schatz dem Baby dann wieder weggenommen wird, ist das enttäuschend. Eigentlich verständlich, oder?
Für Eltern ist die Autonomiephase eine anstrengende Phase. Fürs Baby oder Kleinkind aber auch. Ein kleiner Trost für alle, deren Nerven gerade blank liegen: Sie ist ein ganz wesentlicher Schritt in Babys Entwicklung. Gefühlsausbrüche gehören dazu.
Wutanfall? So können wir unserem weinenden Baby helfen, sich zu beruhigen
- Geht es ums Haben-wollen, ist die Lösung einfach: Entweder, wir erfüllen den Wunsch oder wir lenken seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes (natürlich nur, falls er kein Grundbedürfnis betrifft). Das klassische Ablenkungsmanöver ist bei den Kleinsten erfolgversprechender als der Versuch einer logischen Erklärung, die es ja noch gar nicht verstehen kann.
- Reagiert auf Weinen niemals mit Wut: Schreiende Kinder erreicht normales Reden nicht mehr (Erwachsene übrigens auch nicht wirklich). Außerdem sind wir Vorbilder unserer Kids – gerade dann, wenn sie akut vollkommen aus dem Häuschen sind. Wenn wir mit Wut reagieren, machen wir uns zum Spiegel der kindlichen Hilflosigkeit. So verunsichern wir, statt zu helfen.
- Ignorieren ist ebenso ungut und löst eher noch Verzweiflung aus. Das ist dir beides aber schon passiert, weil du an dein Limit gekommen bist? Auch das kennen so ziemlich alle Eltern, du bist damit nicht allein. Es ist aber natürlich trotzdem gut und wichtig, es immer wieder zu probieren – und zu lernen, ruhig zu bleiben.
- Der richtige Ansatz ist das Gegenteil von Ignoranz: Wer auf sein Baby eingeht, geduldig mit ihm redet, es tröstet, ihm hilft und Lösungen aufzeigt, ist in doppelter Hinsicht gutes Vorbild: Zum einen als praktischer Helfer, der aus dem Dilemma den Weg weist, zum anderen als Beispielgeber für gutes zwischenmenschliches Verhalten, das auf Verständnis und Einfühlsamkeit gründet. Dafür ist es wichtig, zu erkennen, dass es das Baby nicht „böse“ meint und uns auch nicht ärgern will. Es hat ein Bedürfnis – und weiß sich noch nicht anders auszudrücken.
- Manchen Kindern tut es gut, wenn wir als Eltern auf Augenhöhe gehen und sie sanft halten oder in den Arm nehmen. Der Körperkontakt und die Botschaft „Ich bin bei dir, ich hab dich lieb“ lassen sie schneller wieder zur Ruhe kommen und geben dem Kind das Gefühl, dass es okay ist, dass es da gerade seine Gefühle überwältigen. Wir haben es trotzdem lieb.
"Eigentlich sollten sich Eltern über den ersten Wutausbruch ihres Kindes mindestens so sehr freuen wie über seine ersten Schritte. Es ist ein Zeichen, dass sich das Kind super entwickelt."
Das sagt Sozialpädagoge Ulric Ritzer-Sachs, selbst Trotz-erfahrener Vater und Online-Berater bei der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Und: "Diese Zeit ist so wichtig, weil das Kind merkt, dass es ein ganz eigener Mensch mit eigener Persönlichkeit und Bedürfnissen ist." Ich habe mit ihm gesprochen und euch viele weitere hilfreiche Tipps für die Autonomiephase hier aufgeschrieben:
(Vor-)Lese-Tipps: Tolle Bücher, die uns und unsere Kinder durch die Autonomiephase begleitet haben: "Und was fühlst du, Känguruh?" von Nora Imlau und das Mitmach-Buch "Wenn ich wütend bin von Nana Neßhöver.
Übrigens, falls bei eurem Baby oder Kleinkind das Anziehen zu Krisen führt: Unsere Kollegin Charoline hat im Video einen super Kleinkind-Anzieh-Hack, der aus Erfahrung vieler Eltern so gut wie immer funktioniert:
Hinweis: Wenn ihr oder euer Kind gefährdet ist und ihr nicht weiter wisst, steht euch das Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe zur Verfügung. Ihr erreicht es unter 0800 / 33 44 533. In Notfällen, z. B. bei drängenden und konkreten Suizidgedanken zögert nicht, euch an die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter der Telefonnummer 112.
Quellen: Interview mit Sozialpädagoge Ulric Ritzer-Sachs, Bundeskonferenz für Erziehungsberatung; Bücher: Susanne Mierau: Ich! Will! Aber! Nicht! Die Trotzphase verstehen und gelassen meistern; Danielle Graf und Katja Seide: Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn: Der entspannte Weg durch Trotzphasen und Babys verstehen und gelassen begleiten; Christopher End: "Eltern sein als Weg"; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung