"Angriff auf unsere Kinder", die Live-Sendung bei RTL hat die Ängste vieler Eltern bestätigt und Abgründe unserer Gesellschaft aufgedeckt. Wichtig ist nun, dass langfristige Strategien entwickelt werden, die Kinder vor Übergriffen schützen.
Harter Tobak: "Angriff auf unsere Kinder"
Zur Primetime vorgeführt zu bekommen, wie leicht unsere Kinder Opfer von sexuellen Übergriffen werden können, ist harter Tobak. Und das war die ganze Sendung von "Angriff auf unsere Kinder". Immer wieder wurden Triggerwarnungen eingeblendet, wurden allzu explizit formulierte Übergriffe auf Kinder gepiepst. Die fast dreistündige Sendung brachte insbesondere Eltern an ihre Grenzen. Die instinktive Reaktion: Abschalten, nicht hinsehen und damit auch nicht wissen, welchen Angriffen unsere Kinder im Netz ausgesetzt sind.
Unerträgliche Erlebnisse
Nur, das ist ja keine Lösung. Natürlich ist es unerträglich zu lesen, wenn in einem Chat einer vermeintlich 12-Jährigen (bei allen dargestellten Kindern handelte es sich um 20-jährige Schauspielschüler*innen) erklärt wird, dass ältere Männer sich auf sie legen wollen, ihre Brüste betatschen und sie für eine Vergewaltigung (die sie selbstverständlich so nicht benennen), Geld bezahlen.
Auch wenn klar ist, dass die 12-Jährigen in der Sendung nicht echt sind, sondern 20- Jährige: Der Gedanken, dass unsere Kinder Opfer von Cybergrooming werden können, der ist verständlicherweise beängstigend. Aber: Diese Angst wird ja nicht von "Angriff auf unsere Kinder" befeuert, die ist leider Teil ihrer Lebensrealität.
Manipulierende Täter
Es ist schwer erträglich, dabei zuzuschauen, wie ein Täter, er wird von RTL "Jürgen" genannt, innerhalb kurzer Zeit mehr als sechs Mal bei der vermeintlich 12-Jährigen anruft, sie unter Druck setzt sie gegen Geld zu vergewaltigen (was er natürlich so nicht nennt). Die Schauspielerin soll Nacktfotos von sich schicken, als sie immer wieder zögernd ablehnt, wird er bestimmender. Als sie nach seiner Telefonnummer fragt, erklärt er, dass er die nicht herausgeben könne, weil er ins Gefängnis kommt, wenn das Kind ihn doch verrät. Der Täter setzt unter Druck, schüchtert ein, manipuliert und macht (für Erwachsene) sehr deutlich, dass er das Mädchen vergewaltigen will.
Zeigt "Angriff auf unsere Kinder" Einzelfälle?
Schockierende Einzelfälle, könnte man meinen. Aber zum einen zeigt das Experiment von RTL, dass online Anbahnungen für Missbrauch keine Seltenheit, sondern Realität sind. Die drei Schauspieler*innen, ein junger Mann und zwei junge Frauen waren innerhalb von drei Tagen mehr als 500 Cybergrooming-Angriffen ausgesetzt. Die Staatsanwaltschaft sagte noch in der Sendung zu, alle Taten anzuschauen und auf Strafrechtlichkeit zu bewerten. Gegen mehr als 20 Täter laufen aktuell Ermittlungen.
Cybergrooming ist der Alltag unserer Kinder
Was aber bedeuten diese Zahlen für uns alle: Vor allem, dass Cybergrooming leider zum Alltag unserer Kinder gehört. Und das auch nicht erst seit diesen Tagen. Es gibt mehrere Untersuchungen und Studien dazu, die sehr deutlich zeigen: Für unsere Kinder sind diese Übergriffe im Netz ein Stückweit schreckliche Normalität. Die Polizei aus NRW hat das bereits 2013 in ihrem Lagebild herausgearbeitet.
Für viele Kinder und Jugendliche ist die Annährung mit sexuellen Motiven bereits selbstverständlicher Teil der Kommunikation im Internet. Die Polizeit erhält daher häufig keine Kenntnis von solchen Sachverhalten. Es ist von einem großen Dunkelfeld auszugehen.
Aus Cybercrime in Nordrhein-Westfalen, Lagebild 2013
Auch für den in der Sendung befragten Experten Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger sind die Zahlen nicht neu. Für ihn ist klar, dass die Täter sich viel zu sicher fühlen. Das, was RTL mit diesem Experiment auch zeigen konnte, war, wie wenig Angst die Täter davor haben, entdeckt zu werden, vor allem aber strafrechtlich verfolgt zu werden.
Kein Schutz für Opfer
Dr. Rüdiger, der vor mehr als 10 Jahren damit begann, sich dem Thema Cybergrooming zu widmen und darüber seine Promotion verfasst hat, sieht wenig Veränderungen. "Ich habe damals gesehen, wie Kinder sexuell im Netz belästigt wurden. Und ich wollte dazu beitragen, dass sich das ändert, dass meine Kinder nicht damit aufwachsen müssen." Sein Ziel hat der Cyberkriminologe nicht erreicht. "Heute ist es noch schlimmer geworden, auch aufgrund der Smartphoneverbreitung."
Die Sendung zeigt nur, wie sicher sich die Täter fühlen. Die haben keine Angst.
Nun als "Angriff auf unsere Kinder", hat diese Sendung das Potential, dauerhaft etwas für die Sicherheit unserer Kinder zu tun? Ich bin da sehr skeptisch. Verständlicherweise sind wir Eltern im Moment sehr erregt und auch alarmiert, werden die (guten) Tipps aus der Sendung beherzigen, mit unseren Kindern über die Onlinegefahr sprechen und wachsam sein, wenn wir Verhaltensänderungen bemerken.
Cybergrooming braucht die Politik
Nur, Cybergrooming ist größer als wir alle. Wir Eltern allein können an den Übergriffen überhaupt nichts ändern. Wir werden nicht verhindern können, dass unsere Kinder von Wildfremden in Onlinespielen angechattet werden, dass sie aufgefordert werden, Nacktfotos zu senden, erpresst werden. Das betrifft Jungen und Mädchen übrigens gleichermaßen, auch wenn der Fokus bei RTL klar auf jungen Mädchen lag.
Es braucht die Politik, es braucht Sicherheitsbehörden, die sich diesem Thema annehmen und nicht auf Bundesländerebene, nicht mal auf Staatenebene, sondern global. Denn die Täter sitzen nicht immer in Deutschland, Cybergrooming ist, wie Hasskriminalität, wie Frauenfreundlichkeit, ein globales Thema.
Wir brauchen Gesetze gegen Cybergrooming
Auch Cyberkriminologe Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger fordert hier neue Gesetze. "Es ist die Aufgabe der Sicherheitsbehörden, wenn die einen hinreichenden Verdacht haben, die Täter verfolgen. Die Polizeiliche Kriminalstatisitik sinkt seit Jahren um fast 1 Millionen Delikte." Seine Idee ist, die so freigewordenen Ressourcen der Polizei ins Netz zu verlagern. Das würde zu einer Erhöhung von Fallzahlen führen, denn momentan werden nur sehr wenige Übergriffe überhaupt angezeigt. Aber es würde das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden auch massiv steigern.
Täter dürfen sich nicht sicher fühlen
Was "Angriff auf unsere Kinder" einmal mehr deutlich gemacht hat, ist, wie unfassbar normal es für Täter ist, Minderjährige im Netz zu belästigen, unter Druck zu setzen, zu erpressen. Wie schwer es für Kinder ist, sich dem zu entziehen. Wie wichtig aufmerksame Eltern sind, die eben auf Veränderungen bei ihren Kindern achten. Aber wenn wir ehrlich sind, die Sendung hat auch gezeigt, wie hilflos wir alle vor diesem massiven Problem stehen.
Es gibt dazu keine Untersuchungen, aber es wäre spannend zu wissen, ob Formate wie "Angriff auf unsere Kinder", die es immer mal wieder gibt, eine präventive Wirkung haben. Ob sie dafür sorgen, dass Täter sich weniger sicher fühlen, weil sie immer damit rechnen müssen, im Fernsehen, bei YouTube oder Instagram, von Journalist*innen vorgeführt zu werden. Es ist ein frommer Wunsch.
Wir Eltern schaffen es nicht allein
Natürlich macht diese Sendung wütend und sprachlos, selbstverständlich ist alles, was da gezeigt wurde ekelerregend. Aber es ist der Alltag unserer Kinder und ihnen einfach keinen Zugang zu Onlinemedien oder einem Smartphone zu ermöglichen, ist eher eine Utopie. Es braucht aber uns wache Eltern, es braucht unser Interesse für die Interessen unserer Kinder, um zumindest einen minimalen Schutz zu ermöglichen. Und es braucht Sicherheitsbehörden und die Politik, die den Schutz vor Cybergrooming dringend auf ihre Agenda packen und wirklich aktiv werden.
Prävention bedeutet auch, dass die Täter Angst haben müssen.
Meine Meinung
Auch wenn ich in der Theorie recht viel über Cybergrooming weiß, das in der Praxis zu sehen, ist eine ganz andere, beklemmende Erfahrung. Natürlich wird in einer Sendung wie "Angriff auf unsere Kinder" auch viel gerafft und zusammengefasst. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht dennoch die Realität vieler Kinder und Jugendlichen zeigt.
Mir kamen die Einschätzungen von Expert*innen ein bisschen zu kurz in der Sendung, denn natürlich brauchen wir alle auch eine inhaltliche Einordnung des Gesehenen. Unbestritten ist aber, dass so eine Sendung nachwirkt. Und ich hoffe sehr, dass sie das auch in der Politik tut. Die Täter dürfen sich nicht mehr sicher fühlen.
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