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Überwältigend

Gewalt gegen Kinder und Frauen: Expertinnen schlagen Alarm

Gewalt gegen Kinder und Frauen

Die Gewalt gegen Kinder und Frauen nimmt zu. Und das liegt vor allem an der momentan besonderen Situation. Zwei Expertinnen geben Tipps für Betroffene und Nachbar*innen.

Gewalt gegen Kinder steigt

Weil wir alle wegen Corona kaum noch aus den eigenen vier Wänden herauskommen, schlagen Expertinnen Alarm. Denn die Gewalt gegen Kinder und Frauen nimmt in diesen Tagen zu, weil wir alle weniger Freiräume haben, weniger Möglichkeiten durchzuatmen.

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Alarmierend ist aber auch, dass die Taten nicht mehr gesehen werden, dass es oft nicht möglich ist, Opfern von Gewalt zu helfen. Wir haben mit zwei Expertinnen über das Thema Gewalt gegen Kinder und Gewalt gegen Frauen gesprochen. Im ersten Interview steht die familiäre Situation und die Gewalt gegen Kinder im Vordergrund. Im zweiten Interview wird besonders die Situation von Frauen unter die Lupe genommen. Für uns von familie.de sind beide Themen aber durchaus miteinander verknüpft, weswegen wir beide Interviews in einem Text veröffentlichen.

Im ersten Interview haben wir mit Dana Mundt von der bke-Onlineberatung gesprochen. Sie ist Diplom Sozialpädagogin und Koordinatorin bei der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke-Onlineberatung). Bei ihr melden sich in diesen Tagen viele Eltern, aber auch Jugendliche.

Frau Mundt, wie geht es Eltern und Kindern gerade?

Es ist im Moment ein extremer Balanceakt auf extrem engen Raum. Nicht nur zwischen Homeschooling und Home Office, sondern auch noch zwischen der Partnerschaft, der Sorge um die Angehörigen und Nachbarn, vielleicht sogar auch noch die Sorge um die berufliche Perspektive und der eigenen Zeit, die man ja auch noch braucht, so für sich. Es ist ein großer Balanceakt, der aber alle Eltern betrifft. Vielleicht ist das auch ein bisschen das Beruhigende: Es geht uns allen im Moment allen ganz ähnlich: das vertraute, „normale“ Leben ist quasi weggebrochen.

In unserer Onlineberatung auf bke-beratung.de sehen wir das recht deutlich. Wir sind ja zum einen ein Angebot für Eltern mit Kindern (bis zum 21. Lebensjahr) sowie für Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren. Am Anfang waren die meisten Jugendlichen noch sehr euphorisch, weil die Schule ausfiel. Das hat sich inzwischen geändert.

Nicht alle Familien sind gleich betroffen

Man kann auch gar nichts verallgemeinern. Es gibt Eltern, die haben ein Haus, mit Garten, im Grünen. Die machen Spaziergänge und denen geht es gut, weil sie im Homeoffice arbeiten können oder Stunden abbauen dürfen und alles gut hinbekommen. Dann gibt es Eltern, die haben wahnsinnigen Stress, müssen auf Teilzeitarbeit gehen, müssen mit ihren Kindern allein klarkommen und dazu kommt möglicherweise noch die Angst, wie sie das perspektivisch in der Zukunft hinbekommen werden. Bekommen wir als Selbstständige einen Zuschuss?

Es gibt eine große Vielfalt. Aber was Eltern eint sind oftmals Sorgen. Viele haben auch Ängste. Ängste um Verwandte, um sich selbst. Das alles erfordert eine wahnsinnige kreative Umstellung. Es ist eine enorme Anpassungsleistung. Eltern müssen mit der neuen Situation klarkommen. Plötzlich müssen Eltern Kinder zuhause „unterrichten“, und das, wo sie keine Lehrer*innen sind. Man möchte eine gewisse Struktur beibehalten. Schon das ist schwierig. Das ist nicht so leicht, wie es klingt.

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Wie erkenne ich ein gutes Beratungsangebot?

Es gibt im Moment im Netz und Radio so viele Ratschläge, man wird damit förmlich überhäuft. Viele Angebote sind richtig gut, aber nicht alle sind für jeden hilfreich. Da muss man schauen, dass man sich individuell die Hilfe sucht, die am besten zu einem passt.

Wenn ich feststelle, ich kann nicht mehr, meine Geduldsfäden sind so dünn, dann kann die bke-Onlineberatung das richtige sein. Es ist anonym, da ist die Hemmschwelle niedriger. Wenn unsere Kolleg*innen merken, dass es Richtung Kindswohlgefährdung geht, dann sprechen wir erstmal mit den Eltern. Wir gucken, welche Belastung gibt es, wie können wir Vater/Mutter helfen, was könnte die Familie entlasten.

Telefonberatung ist auch niedrigschwellig, man sitzt sich nicht gegenüber, guckt sich nicht in die Augen. Und, was viele vielleicht nicht wissen:  Man kann sich auch in den Beratungsstellen anonym beraten lassen.

Wie funktioniert die Onlineberatung bei der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V.?

Man sucht sich einen Nicknamen aus und dann kann man sich zum einen im moderierten Forum mit anderen Eltern und Fachkräften austauschen. Die Fachkräfte sind bei uns Psycholog*innen und Sozialpädagog*innen, die alle in der Erziehungs- und Familienberatung tätig sind. Man kann da dort alles schreiben und besprechen. Zum anderen kann man, wenn man sagt, ich bin nicht gern so öffentlich, die 1:1 Beratung wählen. Wir haben täglich eine Möglichkeit für einen Einzelchat oder die Mailberatung. Die Mailberatung bietet sich besonders an, wenn Eltern tagsüber sehr eingespannt sind, dann kann man eben nachts seine Fragen schicken.

Schnelle Hilfe bei Gewalt gegen Kinder

Wir versuchen innerhalb von 24h auf den Erstkontakt zu reagieren. Und dann wird entschieden, ist das ein Krisenfall, dann sind wir 2-3 Mal pro Woche im Mailkontakt, normalerweise ist es einmal pro Woche.

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Und neben diesen Angeboten haben wir auch noch täglich offene Gruppenchats für Eltern und Jugendliche in denen jedes Thema Platz haben darf, sowie Themen-/ Expertenchats zu Medien, Drogen, Stressbewältigung, Mobbing, selbstverletzendem Verhalten und sämtlichen anderen Themen, die sich auch seitens unserer Ratsuchenden gewünscht werden. Auf der Elternseite gibt es z.B. „Trennungs-Scheidung-Chats“, aber auch die Möglichkeit sich in Väterchats mit anderen Vätern oder als junge Mutter im „Junge-Mütter-Chat“ auszutauschen.

Was passiert denn in den Gruppenchats für Jugendliche?

Unsere moderierten Gruppenchats werden vor allem von den Jugendlichen sehr gern genutzt. Sie tauschen sich hier über ihren Alltag und ihre Sorgen aus. Es hilft ja auch von anderen zu hören, wie sie aktuell mit der veränderten Situation umgehen. Und gerade im Moment hilft es vielleicht auch mal nicht nur über Corona zu schreiben.

So bieten wir zum Beispiel auch einen Poetry-Slam-Chat an oder einen Themenchat zum Thema: „Freundschaften - vom Geben und vom Nehmen“. Es gibt eine Art Community in den Chats, die sich trägt und gegenseitig stützt. Wir sind eine geschützte, datensichere Seite. Außerdem gibt es auch die Möglichkeit sich als Jugendliche/r im Gruppenchat nicht nur mit anderen Jugendlichen, sondern auch mit anderen Eltern auszutauschen (Generationschat).

Wozu bekommen Sie denn gerade viele Anfragen?

Die Stimmung ist spürbar sehr bedrückt, es geht in Richtung Überforderungssituation. Getrennt lebende Eltern im Wechselmodell haben dazu viele Fragen, wie sie den Umgang in Zeiten von Corona gestalten sollten. Die Unsicherheit was kommt, wie es sich entwickelt, das ist schwer.

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Manchen Jugendlichen aber auch Eltern fällt es schwer mit der Isolation zu Recht zu kommen und sich selbst zu strukturieren. Ängste kommen auf, wie die Angst gerade in eine Depression abzurutschen.

Auch der Medienkonsum ist ein großes Thema auf Elternseite, weil sich die Kinder viel mehr mit Medien beschäftigen.

Haben Sie denn Tipps zum Medienkonsum für Kinder?

Es ist, wie ich finde legitim, wenn sich die Kinder häufig mit den Großeltern oder Freunden per Video austauschen, und mal länger auf das Tablet schauen als üblich, auch um den Kontakt zu halten, trotz Kontaktsperre und Ausgangsbeschränkungen.

Wichtig ist, dass man Kinder, je nach Alter, nicht komplett allein im Internet surfen lässt. Vielleicht ist es sinnvoll bestimmte Zeiten für die Nutzung festzulegen, nach altersgerechten Apps und Internetseite zu schauen, so dass es einen guten und sicheren Rahmen gibt.

Eltern würde ich empfehlen, darauf zu achten, dass jüngere Kinder keine Bilder sehen, die auf sie verstörend wirken können. Trotz aller Homearbeit sollte man das Kind gut im Blick haben und im Zweifelsfall gemeinsam gucken, um das erlebte oder gesehene nachbesprechen zu können.

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Auch die Kinder haben vielen Fragen zu der veränderten Situation, an denen man sich als Eltern wunderbar orientieren kann.

Gewalt gegen Kinder: Was können Eltern tun

Was sollten Eltern tun, wenn die Situation zuhause droht zu eskalieren?

Im Idealfall kennt sich jede*r selbst und die eigene Gefühlswelt sehr gut und nimmt bei sich frühe Warnsignale gut wahr. Im Idealfall, werden diese rechtzeitig erkannt: „Ok, ich fühle mich gerade wie der Hamster im Rad, ich muss etwas ändern, weil ich sonst meine Kinder andauernd anschreie und mich am Ende meiner Kraft fühle.“

Wir haben große Sorge, dass Eltern aus Verzweiflung, aus Überforderung, weil ihnen zuhause die Decke auf den Kopf fällt und sie nicht wissen wie es weiter geht, es vermehrt zu Konflikten kommt bis hin zu häuslicher Gewalt. Hier empfehlen wir Eltern sehr achtsam mit sich umzugehen und gleich am Anfang die Notbremse ziehen. Da hilft es, sich zurückzunehmen und den Kontakt zu suchen. Zu Freund*innen, zu Bekannten, zu Menschen, denen man sich anvertrauen kann. Auch die Beratungsstellen vor Ort sind nach wie vor da und ansprechbar.

Die allermeisten sind zwar nicht mehr geöffnet, aber es wird alles umorganisiert auf Videoberatung. Die meisten beraten auch schon telefonisch. Es gibt Krisentelefone, die sind rund um die Uhr geschaltet. Und es ist doch manchmal schon entlastend, wenn man manchmal einfach alles ungefiltert rauslassen kann. Das geht am Telefon oder auch in der Onlineberatung. Unsere Erfahrung zeigt, dass schon das Schreiben einer Mail hilft, die Gedanken zu sortieren. Dann entdeckt man Strukturen im vermeintlichen Chaos. Manchmal braucht man gar nicht das Gegenüber, auch der Prozess des Niederschreibens kann bereits entlastend sein.

Viele haben aber Angst, dass, wenn sie sich offenbaren, dass das Jugendamt auf der Matte steht und ihnen die Kinder wegnimmt.

Ich möchte hier Mut zusprechen, sich zu öffnen. Es ist keine Schande sich Hilfe zu holen! Es ist eine Ausnahmesituation und die fordert mächtig viel von uns. Ich plädiere dafür sich hinzusetzen und zu überlegen, wer helfen könnte. Und es ist ja nicht so, dass das Jugendamt sofort kommt, weil jemand sagt, dass er sein Kind anschreit. Dieses Schreien ist nachvollziehbar, da kommt nicht gleich das Jugendamt.

Wir schauen da immer zuerst mit den Eltern, was sie in der Situation tun können. Und diese Angst vorm Jugendamt ist auch nicht gut. Das Jugendamt ist ja keine böse Gestalt, die sofort einschreitet und den Familien die Kinder wegnimmt. Jugendamtsmitarbeiter wollen Eltern helfen. Wenn man z. B. mit seiner eigenen Angst momentan nicht klar kommt, manche Eltern sind psychisch vorbelastet, und können nicht gut mit der aktuellen Situation umgehen, da müssen Menschen drüber reden können und dürfen. Die beste Medizin ist drüber zu reden, die Gefühle zuzulassen.

Was macht man, wenn es zu eskalieren droht? Was passiert, wenn sich jemand sagt „Ich habe mein Kind geschlagen!“?

Es ist ja schon mal gut, dass die Person sich meldet. Auch das kostet sehr viel Kraft und ist ein mutiger Schritt sich zu öffnen und Hilfe zu suchen - den wir würdigen und auch sehen. Es zeigt, dass die Person etwas an ihrer momentanen Situation ändern möchte. Wir überlegen dann i.d.R. gemeinsam mit den Eltern, was sie machen können, welche Hilfe oder Unterstützung vielleicht auch erforderlich ist was ihnen früher vielleicht auch bereits gut geholfen hat. Das ist sehr individuell.

In der Mailberatung kann man z.B. schauen, was aktuell vielleicht der größte Stressfaktor ist. Manche treten dann beruflich kürzer, manche holen sich einen Babysitter ins Haus. Man kann nur mit der Person individuell überlegen, was helfen kann. Hier gilt es manchmal ganz kleinschrittig nach Ansätzen zu suchen und ggf. zu motivieren. Die Hilfen die wir geben, werden in der Regel gut angenommen.

Haben Sie Angst, dass Ihnen momentan entgeht, wie es Kindern geht? Dass Sie nicht mitbekommen, wenn Kinder Opfer häuslicher Gewalt werden?

Ja, das ist bei uns auch eine große Sorge, wenn Gewalt oder Missbrauch in den Familien vorhanden ist. Schule oder Ausbildung waren oft ein Anker. Sie konnten zu Freunden und/oder waren bereits bei einer/m Therapeuten in der Beratung, die nun ggf. wegfällt oder nur telefonisch stattfinden kann.

Wir schauen dann gemeinsam mit den Eltern oder Jugendlichen, nach guten Lösungswegen. Jetzt, wo sich alles eher nach innen verkapselt, da ist unsere größte Sorge, was ist mit denen, denen es zuhause ohnehin schon nicht so gut ging. Wenn alle dann oftmals noch sehr eng zuhause sind, macht es die Situation nicht leichter. Das ist eine große Herausforderung.

Wie können sich Familien Auszeiten geben?

Wichtig ist, dass man sich auch jetzt zurück zieht, für Auszeiten sorgt, die Medien mal abstellt und offline geht. Oder zum Stressabbau rausgeht. Zehn Minuten im Bad zu verschwinden kann auch schon hilfreich sein. Es muss nicht immer eine große Auszeit sein. Wenn man einen Kaffee bewusst trinkt, die beste Freundin oder den besten Freund anruft, bewusst einen Schritt zurücktritt und durchatmet, das kann schon helfen.

Sport an der frischen Luft oder zuhause auf der Isomatte. Es ist auch möglich, dem Arbeitgeber zu signalisieren, dass man gerade nicht mehr schafft und hier ein Gespräch sucht. Es gibt keine Patentlösung für alle. Aber vielleicht lassen sich Überstunden abbummeln, da braucht es keine Komplettlösung, sondern viele kleine Schritte. Man muss gut auf Reserven und Akkus achten. Sich etwas Gutes gönnen, was Kreatives machen.

Im Idealfall wünsche ich allen Eltern zusätzlich eine Prise Gelassenheit, eine Prise Humor und weniger Perfektionismus. Es sieht momentan in vielen Haushalten so aus, wie es eben aussieht, wenn alle Zuhause sind. Es muss auch nicht immer frisch gekocht werden, eine aufgetaute Pizza ist manchmal völlig in Ordnung. Wenn man die Ansprüche an sich zu hochhängt, dann ist der Druck auch so hoch.

Interview zur Gewalt gegen Frauen

Das andere Interview haben wir mit Laura Kapp geführt. Sie ist Referentin beim Netzwerk der brandenburgischen Frauenhäuser e.V., dem landesweiten Dachverband der Frauenhäuser, Frauennotwohnungen und Frauenberatungsstellen in Brandenburg. Das Netzwerk existiert seit 25 Jahren und kämpft gegen häusliche Gewalt und für eine bessere Unterstützung der Betroffenen. Sie berichtet darüber, wie besonders Frauen zur Zeit von Gewalt bedroht sind. Und sie gibt Tipps, wie wir alle auch in Zeiten der Isolation Hilfe anbieten können.

Frau Kapp, was sind Frauenhäuser? Wo finde ich die? Kann ich da immer hingehen?

Frauenhäuser, auch als Frauenschutzeinrichtungen bekannt, sind für den akuten Schutz von Frauen gedacht. Wir schützen sie vor dem Zugriff von Tätern. Bei uns herrschen strikte Sicherheitsvorkehrungen, oft kennt auch die Polizei den genauen Ort des Frauenhauses nicht.

Zu uns kann jede Frau kommen, die akut von Gewalt bedroht ist. Sie darf ihre Kinder mitbringen. Das Alter bei Mädchen ist nebensächlich, bei Jungen nicht. Söhne ab 12 bzw. 14 Jahren können aus Schutz der anderen Frauen nicht aufgenommen werden. Das ist nichts gegen die Jungs, es geht um den Schutz der teilweise schwer traumatisierten Frauen. Manche Frauenhäuser haben für Frauen mit älteren Söhnen Notwohnungen, da sind dann keine anderen Frauen. Wenn so eine Wohnung vorhanden ist, dann können die älteren Söhne natürlich mitgebracht werden.

Wir versuchen immer, die Frau in der Nähe ihres gewohnten Umfeldes unterzubringen, damit sie weiterhin arbeiten gehen kann, ihre Kinder ihren sozialen Halt nicht verlieren. Das klappt aber nicht immer. Manchmal müssen wir Frauen an weiter entfernte Häuser vermitteln, weil wir in dem Ort keine Kapazitäten mehr frei haben. Das klären wir aber alles im Einzelfall.

Was befürchten Sie in Zeiten von Corona für Frauen und Kinder?

Wir haben Angst, dass wir die Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind, nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wenn die Familien in Isolation sind, dann können die Frauen nicht mehr rausgehen, uns nicht anrufen. Wir bekommen keinen Zugang mehr zu ihnen. Weil wir die Frauen nicht mehr zu Gesicht bekommen, sind wir verstärkt auf die Nachbarschaft angewiesen sind, mehr noch als sonst.

Was können die Frauen tun, die von Gewalt bedroht sind?

Wir versuchen soweit wie möglich unsere Beratungstätigkeit telefonisch und per Mail aufrecht zu erhalten. Das bundesweite Hilfetelefon vermittelt an Beratungsstellen vor Ort. Da nehmen wir aktuell auch bereits einen Anstieg war. Wir haben in Brandenburg zwei Beratungsstellen und die sehen jetzt schon eine erhöhte Nachfrage.

Momentan ist es auch noch so, dass Frauen nach wie vor in die Frauenhäuser gehen können. Es kann sein, dass sich das ändert, darüber wird man am Beratungstelefon dann aber unterrichtet.

Sind die Telefone nicht total überlastet?

Ja, schon. Da muss man leider öfter probieren. Es ist zur Zeit nicht möglich da Kapazitäten aufzustocken, jedenfalls nicht bei uns in Brandenburg. Es gibt Stoßzeiten, da muss man es vielleicht länger versuchen. Aber es ist Hilfe da.

Wir bieten eine 24h Rufbereitschaft bei den Frauenhäusern an, weil die Frauen ja hier zu allen Tages-und Nachtzeiten zu uns kommen können. Aber die Rufbereitschaft ist keine Beratungshotline. Das können wir nicht leisten.

Haben Sie weitere Hilfsangebote?

Wir haben zwei digitale Flyer, der Eine ist für die Betroffenen, der Andere für Nachbar*innen. Man findet die auch auf unserer Facebook-Seite. Auf jedem stehen fünf konkrete Tipps darauf, was man tun kann.

Bei einer Beratungsstelle oder beim bundesweiten Hilfetelefon, da können alle anrufen. Da kann sich jeder melden, der eben Beratung braucht oder nur einen Verdacht äußern will. Das geschieht anonym, aber so können Expert*innen auch die Lage einschätzen. Das ist zudem unverbindlich.

Gewalt gegen Kinder und Frauen

Was können Nachbar*innen tun? Viele haben ja Angst nachzufragen oder sich einzumischen!

Wir von den Frauenhäusern raten dazu, den eigenen Instinkten zu vertrauen. Das gilt sowohl für Betroffenen, als auch für Außenstehende. Denn auch die Betroffenen selbst haben eigentlich gute Instinkte und wissen, wie sie sich schützen sollen. Viele Betroffene streiten ab, was passiert ist. Das versteht man als Außenstehende*r nicht unbedingt, aber die Frauen schützen sich so vor weiterer Wut der Täter.

Und auch als Umstehender haben wir ein Bauchgefühl. Man hört durch die Wand, ob das ein Paar ist, was sich gerade streitet und anschreit oder ob der Eine die Andere erniedrigt. Wir spüren, ob es da eine Bedrohungsstituation gibt, das merken wir alle, ob wir den Impuls haben, dass wir uns selbst in Sicherheit bringen wollen. Und in diesen Zeiten jetzt ist es ratsam lieber einmal mehr die Polizei zu rufen, als zu wenig.

Man kann, wenn man nicht sofort die Polizei rufen will, Zettel im Haus aufhängen mit Telefonnummern von Frauenhäusern. Man kann den Streit unterbrechen und bei den Nachbarn klingeln. Das muss man sich zutrauen, niemand muss sich selbst in Gefahr bringen. Man muss ja nicht nach dem Streit fragen, sondern kann unter einem Vorwand klingeln.

Aber es hilft Frauen zu wissen, dass sie wahrgenommen werden. Man kann die Frauen auch direkt ansprechen (niemals in Anwesenheit des Täters. Das könnte die Frau in Gefahr bringen). Vielleicht nehmen sie die Hilfe in dem Moment nicht an, das kommt häufig vor. Aber sie wissen dann, wo sie klingeln können, wenn sie nicht mehr weiterwissen und Hilfe brauchen.

Was ist denn Ihre größte Sorge im Moment?

Die Statistik für 2018 zeigt, dass jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex)Partner ermordet wird. Wir fürchten, dass die Zahlen für 2020 vielleicht höher ausfallen werden. Man will nicht die Nachbarin sein, die dann nicht die Polizei gerufen hat.

Denn wenn die Polizei kommt und eine Gewalthandlung unterbricht, dann können sie den Täter der Wohnung verweisen. Das steht im Gewaltschutzgesetz. Der Täter muss sich dann für 10 Tage der Wohnung fern halten und in der Zeit kann die Frau sich sortieren und überlegen, wie es weitergehen soll.

Das Gewaltschutzgesetz gilt nach wie vor und ganz besonders im Moment. Es besagt, dass der Täter der Wohnung verwiesen wird, notfalls auch in die Obdachlosigkeit. Die Realität zeigt aber, dass die meisten Täter ein sehr gutes Netzwerk haben und bei Familie und Freunden unterkommen, während die Opfer von häuslicher Gewalt oft isoliert sind und allein dastehen.

Sind die Frauenhäuser in Zeiten von Corona denn alle geöffnet?

Bisher war es so, eine Frau ruft nachts um 3:00 Uhr an, dann kommt jemand und holt sie ab, bringt sie ins Frauenhaus und am nächsten Tag wird gesprochen. Das können wir zur Zeit nicht zusichern, weil es auch in den Frauenhäusern zu Infektionsfällen kommen kann.

Da können wir nicht in die Zukunft schauen. Wir sind aber da gerade sehr aktiv. Wir suchen, gemeinsam mit der kommunalen Verwaltungen und der Landesregierung, nach kreativen Zwischenlösungen. Und das ist vielleicht etwas Schönes: Wir bekommen viele Hilfsangebote aus der Bevölkerung, von leerstehenden Pensionen bis zu Wohnraum bei einer Pfarrerin.

Wir bekommen auch gerade mehr Spenden, was uns sehr freut. Denn oft müssen wir sofort kleine Beträge vorstrecken, weil die Frauen in großer Gefahr sind und wir sie z. B. in ein anderes Bundesland bringen müssen. Da helfen Spenden sehr, weil sie uns den Moment retten.

Gewalt gegen Kinder und Frauen

Was ist denn akut die Bedrohung?

Wenn Sie mich fragen, ob es sein kann, dass jemand, der noch nie auffällig war seine Frau tötet, dann ist die Antwort eher nein. Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Der Femizid, der Tod einer Frau durch den Partner, ist das Ende einer langen Eskalationsschleife.

Gewalt im sozialen Nahbereich steigert sich langsam. Es beginnt mit verbalen Erniedrigen, Beleidigungen, steigert sich langsam zu körperlichen Übergriffen, zu sexualisierter Gewalt und schließlich zu Mord. Das geschieht in Phasen, es gibt auch immer wieder Ruhe und gute Momente. Es ist immer eine Dynamik drin. Häusliche Gewalt ist nie eine Schiene, sie ändert sich. Aktuell haben wir Sorgen, dass diese Gewaltspirale, die sonst zehn Jahre dauert, sich plötzlich auf ein Jahr verkürzt. Weil es keine Pausen mehr gibt.

Wenn wir Paare haben, die jetzt am Anfang der Entwicklung stehen, wenn dem Partner einmal die Hand ausgerutscht ist und er sehr glaubhaft beteuert, dass das ein Ausrutscher war, weil er zwei Bier zu viel getrunken hat, und dieses Paar geht jetzt in die häusliche Isolation... Ohne Isolation wäre ein halbes Jahr nichts passiert. Aber es steht zu befürchten, dass sich die Zeit nun verkürzt, dass es bereits in ein, zwei Wochen zum nächsten Übergriff kommt. Der dann schlimmer ist. Das ist die Sorge. Wir Frauenhäuser arbeiten mit den Frauen und müssen versuchen, diese Spirale zu unterbrechen. Wenn wir aber nicht mehr reinkommen, dann gibt es keine Unterbrechung der Spirale mehr.

Wen betrifft häusliche Gewalt?

Es gibt keine geborenen Opfer oder Täter. Häusliche Gewalt kommt überall vor, jede Kultur, jede Einkommensschicht. Es gibt ein paar Faktoren: der größte Faktor ist eigene Gewalterfahrung in der Kindheit und Jugend. Wenn sie selbst Gewalt erlebt haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie es selbst tun, weil sie nicht gelernt haben, dass es andere Lösungsstrategien gibt. Und das sind die Paare, um die wir uns Sorge machen. Die, die eine Tendenz dazu haben und jetzt ganz allein gelassen sind.

Gewalt gegen Kinder und Frauen ist immer ein großes Problem. Zurzeit, das sagen unsere Expertinnen ja sehr deutlich, ist die Angst groß, dass Straftaten übersehen werden, weil die Opfer nicht gesehen werden. Deswegen appellieren auch wir von familie.de daran, aufeinander aufzupassen.

Andrea Zschocher

Mein Fazit

Es ist eine besondere Zeit. Und auch bei mir zuhause war es definitiv schon entspannter. Ich muss gestehen, dass auch ich schneller genervt bin, beim 20. "Maaaama" entnervt die Augen rolle. Uns allen macht die Situation zu schaffen. Ich mache mir große Sorgen um die Frauen und Kinder, bei denen nicht nur die Augen gerollt werden, sondern Worten und Taten folgen. Deswegen hoffe ich, dass wir alle einen wohlwollenden Blick auf die Nachbar*innen haben, uns gegenseitig unterstützen. Und uns Hilfe holen. Es ist keine Schande um Hilfe zu bitten!

Andrea Zschocher

Bildquelle: getty images /Nattanon Kanchak

2 Grafiken: Netzwerk der brandenburgischen Frauenhäuser e.V.