Wer sich mit dem Terminus "Vaterkomplex" beschäftigt, kommt auch auf den Ausdruck Elektrakomplex. Gemeinsam mit dem Ödipuskomplex prägten diese Begriffe die frühe Psychoanlayse. Was der Elektrakomplex bedeuten soll und warum er höchst problematisch und sexistisch ist.
Was ist der Elektrakomplex?
Der Terminus "Elektrakomplex" geht auf den umstrittenen Psychoanalytiker C.G. Jung, einem ehemaligen Schüler Sigmund Freuds, zurück. Er prägte ihn als Gegenstück zu Freuds "Ödipuskomplex" 1913 in seiner Schrift "Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie". Während der Ödipuskomplex nach Freud eine frühe kindliche problematische sexuelle Bindung eines Mannes an seine Mutter beschreibt, stellt der Elektrakomplex das weibliche Gegenstück dar: Die Frau bzw. das kleine Mädchen, das eine überstarke sexualisierte Bindung zum Vater entwickelt und die Mutter dabei ablehnt bzw. eine Art Rivalität zu ihr entwickelt.
Die Psychoanalytiker bedienten sich begrifflich dabei an der griechischen Antike: Elektra ist eine Sagengestalt, die gemeinsam mit ihrem Bruder Orest ihre Mutter Klytaimnestra ermordete. Ödipus hingegen tötete – ohne es zu wissen – seinen Vater und heiratete ebenfalls ohne sein Wissen seine Mutter Iokaste. Als er die Wahrheit erfährt, sticht er sich die Augen aus. Freud kritisiert in seiner Schrift "Über die weibliche Sexualität" von 1931 den Elektrakomplex von Jung: Laut Jung sei die Beziehung beider Geschlechter zu den Eltern symmetrisch (also genau gleich), Freud behauptet jedoch, diese sei asymmetrisch und damit abweichend.
Im Gegensatz zu Jung behauptet Freud, dass die sexuelle Entwicklung von Mädchen verschieden verlaufen kann: die Liebe zum Vater sei eine Variante, die zweite sei die komplette Abwendung von Sexualität und die dritte die Überbetonung von Männlichkeit im Männlichkeitskomplex. Jung wollte mit dem Begriff des Elektrakomplexes die frühe Fixierung eines Mädchens auf die Eltern beschreiben. Er kritisierte wiederum am Ödipuskonflikt und Freuds Theorie, dass diese Theorie sich nur mit Männern beschäftigen würde.
Der Elektrakomplex heute: Mehr als veraltet
Heute sind sowohl Jung als auch Freud für viele ihrer Theorien umstritten. Wenn beide auch den Weg für die moderne Psychoanalyse geebnet haben, können diese Begriffe nicht mehr ohne weiteres verwendet werden, ohne deren Herkunft und Geschichte zu kennen.
Im Gespräch mit der systemischen Therapeutin Julia Henchen zum Vaterkomplex wird deutlich, warum das höchstproblematisch ist: Hinter diesen Begriffen Vater- oder Mutterkomplex stecken sehr viele sexistische Ansätze und Mythen. Damals noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah man die weibliche Psyche generell als problematischen "dunklen Kontinent". Die Theorien der damaligen durchweg männlichen Analytikern strotzen nur so von geschlechtlich geprägten Ansätzen, die dem Kern der Sache nicht weiterhelfen.
Die frühen Psychoanalytiker Freud und Jung gingen davon aus, dass Kinder in ihrer sexuellen Entwicklung verschiedene Phasen durchmachen: Mädchen würden sich zum Vater sexuell hingezogen fühlen und Jungen zur Mutter. Doch heute wird dieses sexualisierte Konzept gegenüber den Eltern als überholt angesehen, ähnlich auch wie die von Freud definierte orale, anale und phallische psychosexuelle Phase. Damals nahm man an, dass in dieser frühen Kindheit auch sexuelle "Störungen" durch eine bestimmte Fixierung in der Kindheit oder problematische Bindung zu den Eltern entstehen könnten. Das wird heute auch sehr differenziert betrachtet.
Vater- oder Mutterkomplex? Fehlende Bindung ist nicht an ein Geschlecht gebunden
Letztlich kann man heute sagen: All diese Themen, die mit Vater- oder Mutterkomplex benannt werden, sind eigentlich Bindungsthemen. Kinder, die in den frühen Jahren ihrer Entwicklung eine unsichere Bindung erleben, können später solche Probleme entwickeln in ihrer Beziehung zu anderen Menschen insbesondere in Liebesbeziehungen. Menschen kompensieren die fehlende Bindung in ihrer frühen Kindheit z.B. später durch Sexualität und gehen vielleicht Beziehungen ein, die bestimmten problematischen Mustern folgen.
Julia Henchen betont dabei, dass solche Bindungsthemen jedoch auf keinen Fall geschlechtsabhängig sind. Jungen können genauso wie Mädchen unter einer fehlenden oder problematischen frühen Bindung zur Mutter leiden, wenn diese z.B. abwesend war oder aufgrund von eigener Krankheit oder psychischer Probleme keine Liebe und Fürsorge schenken konnte. Das gilt aber ebenso für Väter, die für das Kind, egal ob Junge oder Mädchen, nicht da waren oder sein konnten, wie es das Kind gebraucht hätte.
Ob daraus später dann "Komplex" entsteht bzw. sich ein gewisses toxisches Beziehungsmuster für eine Frau oder einen Mann entwickelt, das man durchbrechen sollte, weil es einem nicht gut tut, ist ganz verschieden. Die Begrifflichkeiten von Elektrakomplex oder Vaterkomplex sind dafür allerdings nicht mehr hilfreich: Sie implizieren häufig auch eine gewisse Schuld, die auf das bestimmte Geschlecht abgewälzt wird.
Als sei die Frau in ihrer Opferrolle Schuld, einfach weil sie die Frau ist und weil sie sich übermäßig in ihrer problematischen oder nicht existenten Beziehung zu ihrem Vater orientieren würde. Auch die Ablehnung der Mutter, die beim Elektrakomplex angenommen wird, ist hier viel zu schematisch. Letztlich sind das Themen frühkindlicher Bindung, die sehr sensibel sind, aber nicht mit Geschlechtsstereotypen erklärt werden können.
Alte Begrifflichkeiten hinterfragen
Im Austausch mit der systemischen Therapeutin Julia Henchen, wurde mir deutlich, dass man sehr aufpassen muss, welche Begriffe man verwendet und welche Historie diese haben. Nur weil ihr immer wieder – auch heute noch – solche alten Begriffe in manchen Magazinen lest, heißt das nicht, dass sie nicht umstritten sind. Im Bereich der Psychoanalyse hat sich zum Glück viel getan und wurde aufgearbeitet, auch wenn sich einiges noch bis heute hält.
Also müssen wir vorsichtig sein und genau hinsehen, wenn wir über Beziehungsthemen sprechen, damit wir nicht ins Stereotyp geraten. Ob ein Gehirn genderneutral sei oder nicht, darüber streitet man sich in der Wissenschaft. Schematische Betrachtungen von weiblicher und männlicher Psyche helfen jedenfalls in der Verhaltenstherapie selten weiter. Zum Unterschied von weiblichem und männlichem Gehirn empfehle ich euch dieses Interview mit Psychiatrieprofessorin Iris Sommer.
Was eine gute Bindung ausmacht
Wie Journalistin Nora Imlau sagt: "Bindung ist ein Lebensthema." Es fängt im frühkindlichen Bereich an und zieht sich bis ins Erwachsenenalter durch. Psychologen sagen, dass Kinder eine gute Bindung zu ihrem Eltern haben, wenn sie all ihre Gefühle offen zeigen, mit dir darüber sprechen und keine Angst haben müssen vor dir traurig oder wütend zu sein. Wir Eltern sorgen uns ja ständig darum, dass unsere Bindung zum Kind gut ist bzw. haben Angst, Fehler zu machen, die sich negativ aufs Kind auswirken.
Letztlich ist es aber schon die erste wichtige Voraussetzung, das eigene Kind so zu lieben und anzunehmen, wie es ist und für es da zu sein. Liebevolle Eltern können auch mal Fehler machen und müssen absolut nicht ständig perfekt sein. Sie geben diese Fehler gegenüber den Kindern zu, entschuldigen sich dafür und erklären ihre Gefühle.
Wenn euch das Thema Bindung und Kindheit noch stärker interessiert, dann schaut euch unser Gespräch mit Psychologin, Autorin und Psychotherapeutin Stefanie Stahl an. Darin fragen wir sie, was man Kindern als Eltern unbedingt mitgeben solle und was gute Eltern noch ausmacht:
Quellen: Interview mit Julia Henchen, Drosch Lexikon der Psychologie, Freud: "Über die weibliche Sexualität", C.G. Jung: "Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie", Gedankenwelt.de