Als ich las, dass die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen schließt, war mein erster Gedanke: "Na endlich!" Viel zu sehr hatten sich die Bilder aus dem Film "Elternschule" in meinen Kopf gebrannt. Den Dokumentarfilm haben 2018 sicher sehr viele Eltern gesehen, er sorgte für viele Diskussionen in den sozialen Netzwerken und bei Eltern untereinander. Aber der Film ist ja nur ein Teil der Wahrheit.
Ich will ganz offen sein: Ich habe nur den Film "Elternschule" gesehen, ich war nie in der Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen und ich bin keine Psychologin. Ich bin Journalistin und Mutter von drei Kindern. Ich beschäftige mich viel mit Bindungstheorien und habe mich in den sozialen Medien nicht nur gegen die Nominierung für den Deutschen Fernsehpreis für diesen Film stark gemacht, sondern auch unter #Herzensschule darüber geschrieben und in einem Video gegen den Film mitgewirkt.
Ökonomische Entscheidung
Ihr könntet also glauben, dass das hier eine ganz einseitige Kolumne wird, in der es nur darum geht, abzufeiern, dass diese Abteilung nun geschlossen wird. Aber das wäre zu kurz gedacht und ehrlich gesagt auch nicht wirklich eine Nachricht wert. Denn der Grund warum dieser Zweig der Kinder- und Jugendklinik schließt ist ein sehr simpler: Er lohnt sich nicht mehr.
Werner Neugebauer, Geschäftsführer der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen, erklärt: „Die Patientenzahlen sind in den vergangenen fünf Jahren deutlich zurückgegangen. Damit fehlen uns die Einnahmen zur Finanzierung dieses Programms. Die Schließung ist eine rein ökonomische Entscheidung.“
Protest hatte kaum Einfluss
Und genau hier liegt meiner Meinung nach das Problem. Es ist eben leider nicht so, dass all die Proteste so wahnsinnig erfolgreich gewesen wären, dass die Betreiber überzeugt wurden, dass es so nicht weitergehen kann, dass Kinder eine andere Form von Hilfe bekommen müssen. Da der Film erst 2018 in die Kino und 2019 im TV lief, können wir alle uns ausrechnen, dass der Protest da wenig mit der Schließung zu tun hat.
Vielleicht sind nach Ausstrahlung des Films in den letzten zwei Jahren noch weniger Familien dort zur Therapie hingefahren. Vielleicht haben Krankenkassen dann doch die Kosten für alternative Angebote übernommen. Die Klinik geht davon aus, dass vor allem der Ansatz, Eltern und Kind mindestens drei Wochen aufzunehmen, das Problem war.
„Das verhaltenstherapeutische Programm sah nicht nur die stationäre Aufnahme des Kindes, sondern auch die von Mutter oder Vater vor. Doch der notwendige dreiwöchige Aufenthalt in der Klinik war für viele Familien eine zu hohe Hürde. Die Familienstrukturen haben sich verändert, auch die Erwartungshaltungen der Menschen. Die Therapie von psychosomatischen Störungen braucht Zeit und Geduld. Das ist für manche Familien eine zu große Herausforderung, die sie nicht leisten können.“
Werner Neugebauer, Geschäftsführer der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen
Keine Kritik
Kritik am eigenen Programm? Fehlanzeige! Und genau darüber müssen wir reden. Denn die Methodik war ja durchaus fragwürdig, verschiedene Kinderärzte und auch der Kinderschutzbund haben 2018 massive Bedenken angemeldet und sogar Anzeige erstattet. Hatte das Konsequenzen? Eher nicht. Es gab einen Aufschrei unter vielen Eltern, es meldeten sich Eltern zu Wort, die ihre Kinder dort haben behandeln lassen und Kinder, die dort behandelt wurden.
All das las sich furchtbar und hat in den Köpfen einiger Eltern sicher auch was bewegt. Aber es änderte sich wenig. Der Klinikleiter sagt dazu, dass es für das Team eine schwierige Situation war: "Die teilweise diskreditierende Polemik machte eine sachliche Diskussion unmöglich."
Über Kindesmisshandlungen diskutieren?
Ich schätze Diskussionen und Austausch wirklich sehr, aber an der Stelle frage ich mich: Wie kann es überhaupt möglich sein bei Kindesmisshandlung sachlich zu bleiben und mit der Kamera drauf zuhalten? Mich jedenfalls haben die Bilder nicht mehr losgelassen.
Ich frage mich, wie es sein kann, dass Kinder in einem vergitterten Bett mutterseelenallein in einem dunklen Raum schlafen lernen müssen, ohne Trost und Zuspruch von Eltern? Wieso werden Kinder zum Essen gezwungen, zum Gehorsam? Warum braucht es einen Raum in dem die Kinder unter Aufsicht still sein müssen? Wieso ist es überhaupt eine Option, dass Kleinkinder lernen sollen, sich selbst, ohne den Beistand ihrer Eltern zu beruhigen?
Wieso werden die Kinder so behandelt?
Aber ich frage mich eben auch, wieso die Klinik bei ihrer Arbeit bei den Kindern ansetzte. Es ist mir unbegreiflich, dass an Kindern, die sich in seelischer Not befinden, die um Aufmerksamkeit ihrer Eltern betteln, herum gearbeitet wird. Dass ihnen signalisiert wird, sie wären das Problem, nicht die Eltern und nicht diese Abteilung der Kinder- und Jugendklinik.
"Mich hat der Film "Elternschule" sehr bewegt und stellenweise auch schockiert. Ich kann die Einstellung gegenüber Kindern, dass sie manipulieren und ggf. auch ihre Neurodermitiserkrankung dazu nutzen, nicht nachvollziehen. Auf der einen Seite bin ich über die Schließung erleichtert, auf der anderen Seite, hat "Elternschule" auch gezeigt, dass es viele Familien gibt, die Hilfe benötigen. Ich hoffe, sie finden ein alternatives Angebote, wo ihnen und ihren Kindern wirklich nachhaltig und respektvoll (den Eltern, aber vor allem den Kindern gegenüber) geholfen werden kann."
Sarah Plück, Redakteurin bei familie.de
Hilfe für Familienalltag
Ich habe in "Elternschule" viele verzweifelte Eltern gesehen, die sich Hilfe in dieser Klinik erhofften. Ihnen wurde erklärt, dass sie die Führung in der Familie übernehmen müssen und nicht das Kind bestimmen lassen dürfen. Soweit gehe ich sogar mit. Natürlich müssen wir Eltern sagen, wo es lang geht, Kleinkinder können das nicht entscheiden. Aber das alles muss mit Respekt und Liebe geschehen. Und nicht mit Druck und Zwang, Angst und Einschüchterung.
Genau das war aber der gezeigte Weg in "Elternschule". Mir ist klar, dass das Ausschnitte gezeigt wurden, dass Geschichten gerafft und Spannungsbögen gestaltet werden. Ich weiß, dass Bilder lügen können. Aber selbst wenn ich all das in die Wagschale FÜR diesen Film werfen wollen würde, dann frage ich mich, wie irgendjemand glauben kann, das sei ein toller Dokumentarfilm über Erziehung.
Kein Film über Erziehung
Das sieht die Klinik selbst übrigens genauso. Werner Neugebauer, Geschäftsführer der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen, sagt dazu: "Der Film ist kein Film über Erziehung. Er zeigt die Therapie von psychosomatisch schwer erkrankten Kindern, die psychisch und oft auch körperlich schwer belastetet sind. Wir waren für die Kinder und ihre Familien oft die letzte Chancen, wenn ambulant alles ausgeschöpft war.“
Ich glaube sofort, dass die Abteilung dieser Klinik die letzten Chance war für viele Eltern. Die hatten schon soviel hinter sich mit ihren Kindern, ich war tief berührt als eine Mutter im Film erklärte, wenn es auch dieses Mal nicht klappt, dass die Tochter ihr Verhalten ändert, dann würde sie das Kind weggeben. Aber ich hätte erwartet, dass dann nicht an den Kindern manipuliert wird, weil sie nun mal die Schwächsten in dieser Kette sind. Sondern, dass den Eltern erklärt wird, wie sie ihre Erziehungsfehler wieder ausbügeln können.
Eltern sind in der Verantwortung
Denn, sorry, aber in den allermeisten Fällen sind es doch wir Eltern, die bei unseren Kindern irgendwas verbocken. Das ist eine Wahrheit, die weh tut und bei der ich mich überhaupt nicht ausnehme. Natürlich nimmt das bei mir nicht so Ausmaße an wie bei den verzweifelten Familien aus dem Film. Aber auch ich merke immer wieder: Meine Kinder reagieren mit Wut und Gebrüll und Gemecker und werfen auch mal Sachen auf meine Erziehungsfehler. Pillepalle im Vergleich zu vielen anderen Kindern, ich weiß.
Was passiert mit den Familien?
Nun also ist die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen bald Geschichte und wird sich nicht mehr um Eltern und Kinder kümmern. Was passiert aber mit den verzweifelten Familien? Wo finden die Unterstützung? Der Film "Elternschule" hat, und da bin ich wirklich dankbar drum, eine neue öffentliche Debatte um Familien entfacht. Darum, wie Eltern mit Kindern umgehen und wie Familienleben gestaltet wird. Über mangelnde Hilfsangebote und alternativlose Methodiken, die Eltern gegen ihre Überzeugung anwenden, weil sie hoffen, dass nur bald alles besser wird.
"Ich hatte zuvor viel über die Doku "Elternschule" und damit über die Gelsenkirchener Einrichtung gelesen. Dadurch war ich auf das Schlimmste vorbereitet und dann sehr überrascht, dass ich die Doku nicht so schrecklich fand, wie erwartet. Ich stimme nicht mit allen dort gezeigten Maßnahmen überein (bin aber auch kein Experte, sondern einfach nur Mama mit meinen persönlichen Erfahrungen, Meinungen und Ansichten), aber im Großen und Ganzen fand ich viele Erklärungen und Ansätze nachvollziehbar. Dass es schlimm war, die Emotionen der beteiligten Eltern und Kinder anzusehen und auszuhalten, ist eine ganz andere Sache. Am Ende habe ich wirklich verzweifelte Eltern und Kinder gesehen, die Hilfe gesucht und bekommen haben. Das es zu diesem Modell bestimmt auch noch andere Ansätze (eventuell auch bessere) gibt, ist mir bewusst. Ich hoffe sehr, dass den gezeigten Familien durch die Therapie wirklich langfristig geholfen wurde. Oder sie an anderer Stelle die Hilfe gefunden haben, die sie brauchen."
Charoline Bauer, Redakteurin bei familie.de
Es braucht eine Debatte wie es für Familien weitergeht
Gab es eine Debatte darüber, welche Alternativen nun möglich werden? Wie Familien zukünftig unterstützt werden können? Eher nein. Und das ist ein riesiges Problem, dass sich durch die Schließung der Abteilung einfach nur verlagert. Es ist ja nicht so, als hätte es ein Umdenken bei den Angestellten in der Klinik gegeben. Niemand hat sich hingestellt und gesagt, wie wir hier mit den Kindern umgehen ist falsch oder mindestens diskussionswürdig.
Schließung der "Elternschule" verändert nichts
So sehr ich mir das auch wünschen würde, dieses Eingeständnis und die Möglichkeit über neue Hilfsangebote für Kinder und Familien zu sprechen, die Schließung dieser Abteilung hat gar nichts verändert. Und das ist in meinen Augen das viel größere Problem. Denn die Eltern bleiben weiterhin hilflos, die Kinder sind weiter schutzlos und niemandem in den Familien geht es gut. Hier brauchen wir eine zugewandte Lösung, die die Kinder im Blick hat und die Eltern in die Verantwortung nimmt. Und nicht versucht die Schwächsten der Gesellschaft zu verbiegen, damit sie in eine Welt passen, die Erwachsene bestimmen.
Quellen: Kinder-und Jugendklinik Gelsenkirchen, Spiegel
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