Caroline Link, erfolgreiche Regisseurin und Mutter einer erwachsenen Tochter hat ein Buch über ein Thema geschrieben, bei dem sich vielen Eltern der Magen umdreht. Sexuelle Gewalt gegen Kinder, das lässt uns oft sprachlos zurück. Dabei ist es wichtig darüber zu sprechen und aufmerksam zu sein. Wir haben mit der Oscar-Preisträgerin exklusiv über "Finis Geheimnis", aufmerksame Erwachsene und unschuldige Kinder gesprochen.
Ein Bilderbuch, das passt und passt doch nicht so recht zu Caroline Link. Ihre Filme, u.a. der Oscar-prämierte "Nirgendwo in Afrika", "Jenseits der Stille" oder "Der Junge muss an die frische Luft" zeigen zwar immer auch Kinder, sind aber nicht unbedingt Kinderfilme. Die Regisseurin erklärt uns aber, dass sie sich Kindern schon immer sehr verbunden gefühlt hat.
Bevor ich auf die Filmhochschule gegangen bin, habe ich immer gesagt, ich möchte etwas mit Kindern machen. Ich dachte dabei nicht an Lehrerin oder Kindergärtnerin, ich wollte mich mit Kindern beschäftigen, die in ihrem Leben mit schwierigen Situationen umgehen müssen.
Caroline Link
Sexuelle Gewalt gegen Kinder
Und eine der schwierigsten Situationen, in denen Kinder sich befinden können, ist sexuelle Gewalt gegen sie. Link sagt: "Die Vorstellung, dass Kinder mit diesen traumatischen Erlebnissen alleine gelassen werden, finde ich unglaublich traurig. Da könnte ich heulen." Und weil das allein leider keinem KInd hilft, schrieb die 57- Jährige ein Kinderbuch über das Thema.
Ich empfand schon immer eine große Nähe zu Kindern und ihre unterschiedlichen Entwicklungsprozesse interessieren mich sehr. Es schmerzt mich, zu wissen, dass Kindern sogar in ihrem engsten Schutzraum, der Familie oder dem Freundeskreis Leid zugefügt wird. Es fällt sehr schwer, sich in so einem Fall einer erwachsenen Person anzuvertrauen oder sich Hilfe zu holen. Darum geht es in der Geschichte.
Caroline Link
Kinderbuch "Finnis Geheimnis"
In "Finnis Geheimnis", das sich an Kinder ab vier Jahren richtet, verändert sich das Leben des kleinen Fuches, als Onkel Wolfgang, ein Freund der Eltern, in die Nähe zieht und viel Zeit mit der Familie verbringt. Finni baut mit ihm ein Baumhaus und erst ist nichts so toll, wie gemeinsam daran zu arbeiten. Bis Finni irgendwann allein mit Onkel Wolfgang ist und dieser beginnt, ihn auf eine Weise zu streicheln, die Finni überhaupt nicht gefällt.
Ab dem Zeitpunkt hat der kleine Fuchs ein schreckliches Geheimnis. Er will nicht mehr spielen, nicht mehr essen und er hat große Angst, nochmal allein mit Onkel Wolfgang zu sein. Seine Eltern merken das nicht so richtig, aber Frau Eule, seine Erzieherin in der Kita, wird aufmerksam.
"Frau Eile ist in der Geschichte neben dem Fuchs Finni die wichtigste Figur. Ihr gelingt es, Finnis Vertrauen zu gewinnen, ohne ihn auszuhorchen. Kinder müssen wissen, dass es nichts gibt, was sie uns nicht erzählen dürfen. Es darf nichts geben, was zu peinlich dafür ist! Man muss Kindern signalisieren: Ich bin da, ich glaube dir, ich bin auf deiner Seite", sagt Caroline Link.
Dass Kinder manchmal über Jahre diese finsteren Geheimnisse mit sich herumtragen, finde ich unglaublich bedrückend. Das muss so einsam sein. Dass es in ihrem Leben niemanden gibt, dem sie sich anvertrauen können.
Caroline Link
Wo sind die aufmerksamen Erwachsenen?
Und doch, sich so wie Frau Eule zu verhalten, das erfordert genaues Hinsehen und Offenheit. Die Regisseurin fragt sich aber: "Wo ist im Leben dieser Kinder diese `Frau Eule`? Wo ist der Mensch, der die Veränderung im Verhalten wahrnimmt und nachfragt, ohne den Kindern etwas in den Mund zu legen? Es braucht auch Eltern, die immer wieder sagen: `Erzähl mir, was dich bedrückt. Ich bin immer auf deiner Seite.`"
Tatsächlich sind hier wir Erwachsene gefragt. Es ist für Kinder schlicht nicht möglich sich selbst aus diesen unerträglichen Situationen zu befreien. Kinder empfinden Angst und Scham und sind mit ihrem Geheimnis allein. Wie Frau Eule es in dem Kinderbuch tut, ganz behutsam nachfragen, ob es da ein "pieksiges Geheimnis" gibt, das kann ein erster Schritt sein.
Das ist nicht nur ein Kinderbuch, es ist auch für Eltern, Erzieher*innen und Betreuer*innen, die aufmerksam werden auf ein großes Problem in unserer Gesellschaft. Sie können ja von Frau Eule lernen, wie sie sich behutsam dem Thema nähern.
Caroline Link
Wir dürfen nicht von Kindern erwarten, dass sie sich selbst aus solchen Situationen befreien. Das ist zuviel verlangt. Caroline Link erklärt im Interview: "Kleine Kinder können nicht zu einem Erwachsenen sagen `Nein, hör auf!`. Deswegen ist es wichtig, dass sie sich in ihrem Umfeld jemanden suchen, dem sie sich anvertrauen können und der nicht in lauten Alarmismus verfällt, sondern den Kindern das Problem mit Sensibilität abnimmt."
Wohin wende ich mich, wenn ich sexualisierte Gewalt vermute?
Wie diese Unterstützung aussieht, kann unterschiedlich sein. Wer sich nicht traut selbst aktiv zu werden (und das ist, zum Wohle des Kindes ja auch nicht immer ratsam), der kann sich auch anonym zunächst Rat holen. Im Buch liegt auch ein Flyer des UBSKM (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs) bei, der euch erste Informationen liefert.
Es gibt Hilfetelefone und unter dem Druck der Öffentlichkeit auch viele Angebote, wo man sich anonym melden kann. Man kann auch sagen, ich mache überhaupt nichts, sondern telefoniere mit dem Jugendamt. Es ist heikel, es ist schwierig, aber dafür gibt es Institutionen, die dann übernehmen.
Caroline Link
Es passiert überall
Außerdem braucht es die breite Öffentlichkeit, die begreift, dass das Thema uns alle etwas angeht. Eine Statistik kommt zu dem Schluss, dass in jeder Schulklasse zwei Kinder sitzen, die sexualisierte Gewalt erleben.
Das ist eine gruselige Statistik und Eltern sollten sie kennen. Pädophile Neigungen sind keine Seltenheit.
Was kann ich tun, um mein Kind vor sexualisierter Gewalt zu schützen?
Einen kompletten Schutz vor Übergriffen gibt es nicht. Aber die folgenden Punkte können dabei helfen ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Kinder trauen, Dinge anzusprechen, die ihnen Angst machen oder komisch vorkommen.
- Seid ansprechbar. Wenn eure Kinder wissen, dass sie mit allem zu euch kommen können, dann fällt es ihnen auch in den schweren Momenten leichter.
- Benennt Geschlechtsteile und redet immer mal wieder darüber. Wenn Kinder wissen, dass Pipiman, Penis, Mumu oder Vulva keine schambesetzten Begriffe sind, trauen sie sich auch eher, mit euch darüber zu sprechen, wenn sie dort berührt wurden. Es ist vollkommen in Ordnung, dafür Familienworte zu nutzen und nicht die anatomisch korrekten Begriffe. Wichtig ist die Enttaubisierung.
- Reagiert gelassen, wenn eure Kinder ihren Körper erkunden. Denn wenn uns Eltern das peinlich ist, dann ist es das auch den Kindern. Und das kann dann zu Sprachlosigkeit führen, in Momenten, in denen unsere Kinder uns brauchen.
- Achtsam auch bei anderen Kindern sein. Übergriffe auf Kinder gehen uns alle etwas an, da gibt es kein Stopp an der eigenen Haustür. Ihr könnt auch Ansprechpartner*innen für andere Kinder sein, wenn ihr behutsam vorgeht und niemanden drängt.
- Kinder verhalten sich niemals sexuell! Der Fehler liegt immer beim Gegenüber.
Ich würde mich freuen wenn unser Buch in Kindergärten und Grundschulen für Kinder leicht zugänglich wäre. Nur wenn betroffene Kinder wissen, dass sie nicht alleine sind, kann ihnen geholfen werden.
Caroline Link
Meine Meinung
In der Theorie ist sexuelle Gewalt gegen Kinder etwas, bei dem wir alle lieber wegschauen möchten. Weil es so unvorstellbar furchtbar ist. Aber genau das dürfen wir in der Praxis eben nicht tun. Und nicht nur bei unseren eigenen Kindern, sondern auch bei ihren Freund*innen, Bekannten und den stillen Kindern, die vielleicht unsere Hilfe brauchen.
Ich bin froh, dass das Bewusstsein immer weiter steigt. Und doch merke ich, wie viel passieren muss. Denn sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist "dank" Social Media ein immer größer werdendes Problem. Täter sind weltweit vernetzt und tauschen sich aus. Auch hier müsste es ein viel entschlosseneres Vorgehen geben, denn Übergriffe machen ja virtuell nicht an Staatsgrenzen Halt.
Übrigens, vielleicht ist es euch aufgefallen, ich schreibe im Artikel ausschließlich von sexueller Gewalt und nicht von Kindesmissbrauch. Der Grund dafür: Das Wort ist einfach falsch, weil es impiliziert, es gebe einen richtigen "Gebrauch" von Kindern. Das, was Menschen erleben, ist sexuelle Gewalt und es muss auch so benannt werden.
Bildquelle: Adrienne Meister