Man kann es fast schon als gesellschaftlichen Trend bezeichnen: Das Hurried Child Syndrome. Tatsächlich kursiert der Begriff schon seit den 80er-Jahren, geprägt wurde er durch den Kinderpsychologen David Elkind. Worum es sich dabei handelt, wie sich eine gehetzte Kindheit auf deine mentale Gesundheit auswirkt und woran du erkennen kannst, ob auch du betroffen bist.
Hinweis: Wenn du, dein Partner / deine Partnerin oder euer Kind gefährdet ist und ihr nicht weiter wisst, steht euch das Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe zur Verfügung. Ihr erreicht es unter 0800 / 33 44 533. In Notfällen, z. B. bei drängenden und konkreten Suizidgedanken zögert nicht, euch an die nächste psychiatrische Klinik zu wenden, oder den Notarzt unter der Telefonnummer 112.
- 1.Was ist das Hurried Child Syndrome?
- 2.Anzeichen für das Hurried Child Syndrome
- 2.1.#1 Du kannst nicht einfach "Nichts" tun
- 2.2.#2 Du bist perfektionistisch
- 2.3.#3 Du kannst nur schwer "Nein" sagen
- 2.4.#4 Deine Leistungen bestimmen deinen Selbstwert
- 2.5.#5 Da ist eine innere Uhr, die tickt und tickt und tickt ...
- 3.Das kannst du jetzt tun
- 3.1.Die Muster erkennen
- 3.2.Prioritäten setzen
- 3.3.Grenzen setzen
- 3.4.Professionelle Hilfe suchen
Was ist das Hurried Child Syndrome?
Das Hurried Child (zu Deutsch: Gehetztes Kind) Syndrome ist weder eine mentale Erkrankung noch eine Störung der Persönlichkeit. Vielmehr handelt es sich um eine psychologische Kondition, in die wir als Kind durch großen Druck und externe Einflüsse gedrängt wurden. Kurz gesagt: Wir durften nicht richtig Kind sein.
Wer vom Hurried Child Syndrome betroffen ist, wurde schon in jungen Jahren dazu gezwungen, Verantwortung zu übernehmen und sich wie ein Erwachsener zu verhalten, statt einfach sorgenlos Kind sein zu dürfen. Zu großer Leistungsdruck durch Familie oder Schule, aber auch Vernachlässigung durch die Eltern oder existenzielle Probleme wie Geldsorgen können dazu führen, dass wir unsere Kindheit nicht unbeschwert genießen dürfen. Psycholog*innen beobachten mit Beunruhigung, dass sich dieses Phänomen immer weiter verbreitet.
Den Betroffenen werden immer wieder direkt oder indirekt Dinge abverlangt, die sie in ihrem aktuellen Entwicklungsstadium vollkommen überfordern. Sie lernen auf die harte Weise, sich anzupassen und möglichst schnell erwachsen zu werden. Das hinterlässt Spuren – und zwar bis weit über die Kindheit hinaus.
Anzeichen für das Hurried Child Syndrome
Auch, wenn es das Hurried Child Syndrome bereits länger gibt, als wir glauben – was wir unter der modernen Symptomatik verstehen, lässt sich klar von den Erfahrungen der Kriegsgeneration ("Traditionals", 1922 – 1955) unterscheiden: Wettbewerbsorientierte Bildungssysteme, der Vergleich mit anderen gleichaltrigen in den sozialen Medien und gestresste Eltern, die ihre Kinder möglichst früh möglichst allumfassend fördern möchten, um ihnen eine Zukunft des gesellschaftlichen sowie beruflichen Erfolgs zu sichern.
Wie fatal die Folgen dieser "Kindheit auf High Speed" sein können, zeigen Studien zu den jährlich steigenden Raten von Depressionen und Angststörungen bei Minderjährigen:
Etwa eins von 100 Kindern und fünf von 100 Jugendlichen leiden an einer depressiven Störung. Auch wenn sich 90 Prozent der Betroffenen innerhalb von ein bis zwei Jahren erholen, so erleidet mindestens die Hälfte von ihnen innerhalb von fünf Jahren einen Rückfall.
Die Anzahl der unter 15-Jährigen, die aufgrund einer Depression vollstationär behandelt werden mussten, hat sich zwischen 2000 und 2017 verzehnfacht, so teilt es das Statistische Bundesamt mit. Etwa 10 % der Kinder und Jugendlichen sind von Angststörungen betroffen. Letztere gehören damit zu den am weitesten verbreiteten psychischen Erkrankungen von Minderjährigen.
Jeder Mensch ist unterschiedlich und so können sich auch Symptome bei Betroffenen auf verschiedene Weise manifestieren. Die folgenden Merkmale sind daher keine klaren Anzeichen, sondern in ihrer Summe eher Verdachtsfälle. Ob du selbst betroffen bist, kann dir nur eine Psychologin oder ein Therapeut mit Sicherheit beantworten.
#1 Du kannst nicht einfach "Nichts" tun
Es fällt dir schwer, dich einfach mal für längere Zeit zu entspannen und du fühlst dich schuldig, wenn du nicht produktiv bist. Langeweile kommt bei dir niemals auf und wenn doch, nimmst du das als Zeichen, nur noch mehr aufs Gaspedal zu drücken.
Vielleicht fühlst du dich sogar beobachtet und schämst dich, wenn du scheinbar "sinnlos" Zeit auf dem Sofa verbringst oder verurteilst andere, wenn sie nicht so viel und hart arbeiten, wie du es tust. Für dich ist "Nichts" tun reine Zeitverschwendung.
#2 Du bist perfektionistisch
Egal, was du machst: Es muss perfekt sein. Du achtest penibel auf Ordnung und Sauberkeit, dein Aussehen und – natürlich – deine Leistungen. Was du angehst, bringst du auch zu Ende – und zwar mit bestmöglichem Ergebnis. Dabei überforderst du dich regelmäßig, übernimmst zu viel Verantwortung oder opferst Zeit mit Freund*innen und Familie, um dich zu "beweisen".
#3 Du kannst nur schwer "Nein" sagen
Wenn jemand dich um etwas bittet, dann kümmerst du dich auch darum – ganz egal, ob du die Zeit dafür hast oder nicht. Du hast nie gelernt, richtig "Nein" zu sagen und zusätzliche Arbeit oder berufliche Chancen abzulehnen, wenn dein Terminkalender bereits am Überlaufen ist. Dabei stößt du häufig an deine persönlichen Grenzen und fragst dich hinterher, warum du so einen Zwang verspürst, dir mehr aufzubürden als gesund für dich ist.
#4 Deine Leistungen bestimmen deinen Selbstwert
Du bist wettbewerbsorientiert und vergleichst dich häufig mit anderen. Wirklich zufrieden mit dir selbst bist du nur an produktiven Tagen oder wenn du deine hochgesteckten Ziele erreichst. Dein Selbstwert ist instabil und fällt schnell in den Keller, solltest du eine Aufgabe mal nicht so gut meistern wie erhofft (oder wie du denkst, dass andere es von dir erwarten).
In dir ist der feste Glaube verankert, dass du dir Erholung, Urlaub und Freizeit erst mit harter Arbeit verdienen musst. Wenn andere etwas besser machen als du, nimmst du das sehr persönlich und hältst es möglicherweise sogar für einen Beweis deiner "Minderwertigkeit".
#5 Da ist eine innere Uhr, die tickt und tickt und tickt ...
Du machst dir ständig Sorgen, fühlst dich häufig gehetzt und kannst dir nicht richtig erklären, warum eigentlich. Dinge, die dir einmal Spaß gemacht haben, werden zu obligatorischen To-Dos auf deiner unendlichen Liste und du hast das Gefühl, in deinem Alltag nur noch von Aufgabe zu Aufgabe zu springen.
Vielleicht hast du dir in jungen Jahren bereits eine steile Karriere aufgebaut und bekommst häufig zu hören, du wärst erstaunlich früh selbstständig gewesen. Auch auf andere projizierst du den inneren Druck, den du verspürst, deine Lebensziele alle gleichzeitig und möglichst sofort zu erreichen. Menschen, die unstrukturiert und gemächlich von einem Tag auf den anderen leben, lassen bei dir Angstschweiß ausbrechen.
Das kannst du jetzt tun
Das klingt alles sehr nach dir? Du musst nicht für immer im Hamsterrad rennen. Hier kommen ein paar Tipps, was du jetzt tun kannst, um aus dem endlosen Kreislauf von Burn-out und Stress auszubrechen.
Die Muster erkennen
Auch ich selbst kann ein wenig mit dem Hurried Child Syndrome relaten und finde, es ist bereits eine große Hilfe, das Kind beim Namen zu nennen.
Der erste Schritt zur Heilung ist meistens, dass du dir die Situation eingestehst und deine persönlichen Muster erkennst. Halte einen Moment inne und versuche, dir bewusst zu werden, was du da eigentlich tust und wie du dich dabei fühlst. Woher kommen all diese To-Dos und wer ist wirklich enttäuscht, wenn du mal etwas nicht erledigst? In vielen Fällen bist du selbst der- oder diejenige, die sich solchen Druck macht.
Du darfst nach deiner eigenen Uhr leben
Und falls da wirklich jemand in deinem Nacken sitzt und dich mit zu hohen Erwartungen stresst (zum Beispiel eine penible Mutter, die meint, zu wissen, was das "Beste" für dich ist, oder ein Chef, der deine Grenzen nicht respektiert) dann lass dir eines gesagt sein: Du darfst dein Leben ganz nach DEINEN Vorstellungen leben. Du sollst sogar.
Denn wo kämen wir denn hin, wenn wir immer nur machen würden, was andere von uns erwarten? Würde uns das glücklich machen? Ich glaube, wir alle kennen die Antwort auf diese Frage (sie lautet: Nein!).
Prioritäten setzen
Was ist dir wirklich wichtig im Leben (und was nicht so sehr)? Wo möchtest du in fünf Jahren stehen (und wo nicht)? Wie möchtest du dich jeden Tag fühlen (und auf welche Gefühle kannst du verzichten)?
Hast du erst einmal Antworten auf diese Fragen gefunden, ist es leichter, deine persönlichen Prioritäten herauszuarbeiten. Du wirst vielleicht erkennen, dass dich deine 6-Tage-Gym-Routine nur überfordert und dich der perfekte Körper nicht wirklich glücklich macht. Oder dir das höhere Gehalt nichts bringt, wenn du keine Zeit hast, es für schöne Erlebnisse zu nutzen. Vielleicht sehnst du dich einfach nur nach einem friedlichen, einfachen, entspannten Leben. Dann wird dir hoffentlich bald klar, was du loslassen kannst (und musst), um dir dieses Leben zu verwirklichen.
Wir alle leben nur einmal. Oder zumindest können die meisten von uns sich nur an dieses eine Leben erinnern. Welchen Sinn hat es, das Jetzt für eine Zukunft aufzuopfern, in der du zwar ein eigenes Haus hast und eine hohe Rente beziehst, aber zu krank bist, um die "wohlverdiente" Freiheit endlich zu genießen?
Grenzen setzen
Und wenn du erst einmal deine Prioritäten erarbeitet hast, heißt es Grenzen setzen. Entferne die Dinge von deiner To-Do-Liste, die dich auf lange Sicht nicht glücklich machen. Plane bewusst Auszeiten in deinen Terminkalender und lerne, dich selbst zu priorisieren. Meditation, Atem- sowie Achtsamkeitsübungen können dir dabei helfen, nicht wieder zurück in alte Gewohnheiten zu fallen.
Du musst nicht perfekt sein. Niemand verlangt das von dir (und es ist sowieso vollkommen unmöglich). Menschen werden immer unterschiedliche Meinungen haben, die einen werden dich so sehen, die anderen so. Mach es DIR recht, bevor du versuchst, dich für andere zu verbiegen. Letztendlich bist du die Person, mit der du für den Rest deines Lebens zusammen sein und gemeinsam sterben wirst.
Professionelle Hilfe suchen
Deswegen musst du diesen Prozess aber noch lange nicht allein durchmachen. So schön Yoga und Mindfulness auch klingen, oftmals kann es sich auch lohnen, professionelle Hilfe zu suchen.
Eine Therapeutin oder ein Therapeut kann dir schädliche Verhaltensweisen aufzeigen und mit dir gemeinsam daran arbeiten, sie durch gesündere Alternativen zu ersetzen. Du kannst deine Sorgen und Ängste an einem Safespace herauslassen und deine Kindheit in Ruhe und mit emotionaler Unterstützung aufarbeiten.
Auch Journaling ist eine gute Methode, um einen klaren Kopf zu bekommen und dir deiner wahren Gefühle und Bedürfnisse bewusst zu werden. Im Video verraten dir unsere Kolleg*innen von Desired, wie das klappt:
Quellen: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG); Statistisches Bundesamt; Springer Medizin: Angststörungen im Kindes- und Jugendalter.