Wabi-Sabi ist nicht nur ein beliebter Einrichtungsstil aus Japan, sondern auch eine Lebens-Philosophie. 7 Prinzipien, die ursprünglich aus dem Zen-Buddhismus stammen, sollen ein Leben in Freiheit, Dankbarkeit und Erfüllung ermöglichen. Dazu gilt es, den Perfektionismus abzulegen, den wir heutzutage als Gesellschaft verherrlichen, und uns der Schönheit von Imperfektion und Vergänglichkeit bewusst zu werden. Mit diesen Denkanstößen klappt's.
#1 Datsuzoku: Freiheit
Der Konflikt zwischen individueller Erfüllung und gesellschaftlicher Erwartung ist ein innerer Kampf, der nicht nur die westliche Welt, sondern auch – und vielleicht ganz besonders – Japan im Griff hat. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich immer weiter von veralteten Gepflogenheiten abkehrt und nach persönlicher Freiheit und Individualität strebt. Debatten zum Thema Work-Life-Balance, wie beispielsweise die Vier-Tage-Woche oder Remote-Arbeit spiegeln den Wunsch wider, sich von strikten sozialen Normen zu lösen und das Leben nicht länger anhand des materiellen Ertrags zu bewerten.
Datsuzoku ist also ein Weg, dem sozialen Druck zu entkommen, um sich frei und nach den eigenen Vorstellungen ausdrücken zu können (zum Beispiel in Form von Kunst, Literatur und Musik). Mir persönlich gefällt der Gedanke, Datsuzoku als den zugrunde liegenden Wunsch oder das Ziel zu betrachten: ein Leben in Authentizität und Zufriedenheit zu verbringen. Die folgenden Prinzipien sind also Mitte und Wege, dieses persönliche Ziel zu erreichen.
#2 Kanso: Einfachheit
Eines der wohl bekanntesten Prinzipien des Zen-Buddhismus: Kanso, bzw. Einfachheit oder auch Minimalismus. Marie Kondo ist wohl die berühmteste moderne Vertreterin dieser Philosophie und hat durch ihr Buch "Magic Cleaning" im Westen fast uneingeschränkte Aufmerksamkeit erlangt.
Es geht darum, Einrichtung und Alltag auf ein bescheidenes Minimum zu reduzieren und sich nur mit Dingen zu umgeben, die für das eigene Leben als unverzichtbar angesehen werden. Getreu dem Motto, ein einfaches Leben ist ein unkompliziertes Leben.
#3 Shizen: Natürlichkeit & Originalität
Wabi-Sabi und Minimalismus sind jedoch nicht das Gleiche – und das macht das dritte Prinzip deutlich. Shizen legt den Fokus auf die Einzigartigkeit der Natur. In der Ästhetik des Wabi-Sabi werden ausschließlich natürliche Materialien verwendet. Ein Leben in Einklang mit der Natur und Umwelt endet allerdings nicht bei der Raumgestaltung. Dasselbe gilt für die Klamotten, die wir am Körper tragen und unsere Ernährung.
Ein integraler Bestandteil dieses Prinzips ist daher auch der Respekt vor dem harmonischen Kreislauf von Leben und Tod und dem Wechsel der Jahreszeiten. Realistisch lässt sich dies umsetzen, indem du im Winter Rückzug und Erholung priorisierst und wenn möglich stets saisonale Produkte konsumierst. Ähnliche Ansätze findest du übrigens auch in der altindischen Heilkunst des Ayurveda.
#4 Fukinsei: Asymmetrie & Unregelmäßigkeit
Perfektion ist begrenzt. Hast du schon einmal genau darüber nachgedacht, was das bedeutet? Ein perfekter Gegenstand ist nur perfekt, solange er unberührt und neu ist. Dieses Verständnis leugnet die Realität, in der die Dinge um uns herum (und auch wir uns selbst) sich ständig verändern. Zeit vergeht eben nicht, ohne Spuren zu hinterlassen. Und das ist auch gut so, denn sonst würde rein gar nichts existieren.
Das westliche Prinzip der Schönheit erfindet immer neue Beauty-Standards und Routinen, denen wir uns unterwerfen sollen, um einem bestimmten Ideal näherzukommen. Aber mit einem schwankenden Ideal (man denke nur an den perfekten Frauenkörper in den 50ern versus in den 90er-Jahren) ist und bleibt es letztendlich unmöglich, perfekte Schönheit zu erlangen. Es sei denn, man verändert die Perspektive der Betrachtung.
Unregelmäßigkeit und Asymmetrie sind natürlich und deswegen auch uneingeschränkt in der Natur vorhanden. In der Zen-Philosophie wird das vermeintlich "Unperfekte" daher als dynamische Einzigartigkeit zelebriert und hochverehrt. Wenn wir das Unperfekte als festen Bestandteil des Lebens annehmen, gelingt es uns auch, seine wahre Schönheit als solche anzuerkennen.
#5 Yūgen: Tiefgang
Yūgen gilt als ein Prinzip der Zen-Philosophie, das nur schwer mit Worten zu beschreiben ist. Es wird häufig als das "Wertschätzen der subtilen Details" übersetzt.
Dahinter steckt die Idee, dass eine Landschaft immer einen gewissen Tiefgang hat. Ein perfekter Gegenstand ist (metaphorisch) flach und vorhersehbar. Es gibt nichts Verborgenes, nichts Widersprüchliches oder Rätselhaftes in einem fehlerfreien Gesicht. Es ist wortwörtlich makellos und dadurch nicht spannender als eine vollkommen ebenmäßige, weiße Wand (ruf dir das ins Gedächtnis, wenn du deine Narben oder die Dellen an deinen Oberschenkeln betrachtest!).
Yūgen ist stark mit Spiritualität und der Bewunderung für das Mysteriöse verknüpft. Es soll uns nicht nur daran erinnern, genauer hinzusehen, sondern uns auch dazu ermutigen, das Unbekannte und Andersartige als etwas Positives, fast schon Erstrebenswertes zu sehen, vor dem wir uns nicht fürchten sollten.
#6 Shibumi: Vergänglichkeit & Würde
Shibumi steht eng im Einklang mit Yūgen und Fukinsei. Es lässt sich hervorragend am Beispiel der traditionellen japanischen Reparatur von Porzellan- oder Keramikkunst (Kintsugi) illustrieren. Bei dieser Methode, auch genannt "Goldreparatur" werden zerbrochene Gegenstände mit einem speziellen Lack zusammengeklebt, der mit Silber-, Gold- oder Platinpuder vermischt wird. So wird das Unvollkommene nicht nur akzeptiert, sondern sogar absichtlich hervorgehoben.
In der Wabi-Sabi-Ästhetik zeugen vermeintlichen Makel auf würdevolle Art von der häufigen Nutzung geliebter Gegenstände. Beschädigte Dinge werden nicht einfach weggeworfen und ersetzt, sondern nach Möglichkeit repariert. Ein abgenutzter Teppich oder eine raue, verwitterte Oberfläche wird als schön angesehen, denn sie zeugen von Jahren guten Dienstes. Es geht dabei also nicht nur um Nachhaltigkeit, sondern auch um den Respekt vor dem (unvermeidbaren) Altern und eine bedingungslose Dankbarkeit, für das, was dich umgibt.
#7 Seijaku: Ruhe & Gelassenheit
Seijaku ist das Gefühl von Ruhe und Gelassenheit, das eintritt, wenn wir das Chaos des Lebens akzeptieren und uns nicht länger gegen das wehren, das wir ohnehin nicht kontrollieren können. Es kann allein stehen oder als "Ergebnis" der vorangegangenen Prinzipien verstanden werden.
In der Zen-Philosophie gilt Leere, Stille und Einsamkeit als essenziell, um inneren Frieden und Ausgeglichenheit zu finden. Wer etwas weiterdenkt, findet Seijaku in der Natur – etwa in einem bewegungslosen Teich, im Auge eines Wirbelsturms oder an einem eisigen Wintertag, an dem selbst der Atem stillzustehen scheint. Stillstand ist eine Bedingung für Wachstum und Entwicklung. Und Gelassenheit das Tool, um auch in der Hektik der Moderne kontrollierten Stillstand zu ermöglichen.
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