Nora Imlau ist eine der wichtigen Stimmen in Deutschland, wenn es um bindungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft geht. Sie schreibt Bücher, hält Vorträge und tauscht sich mit ihren Leser*innen über das Familienleben und die Herausforderungen im Alltag aus. Nun hat sie ein Buch geschrieben, was fast als die Quintessenz aus all dieser Arbeit betrachtet werden kann.
Sichere Bindung findet im ersten Jahr statt, diese Aussage habt ihr ganz sicher alle schon mal gehört oder gelesen. Deswegen achten die allermeisten Eltern auch darauf, dass sie im ersten Jahr gut (was auch immer das für den oder die einzelne bedeutet) auf die Bedürfnisse des Babys einzugehen. Allerdings, und das ist Nora Imlau im Gespräch ganz wichtig, ist Bindung ein Prozess. Es gibt nicht den einen Moment, an dem sich eine gute oder weniger gute Bindung festmacht.
Bindung ist ein Prozess
Das kann im ersten Moment vielleicht beängstigend sein, das zu lesen, aber eigentlich ist es ein echter Schatz. Denn wenn Bindung ein Prozess ist, "ein Weg, der beim Gehen entsteht", wie Nora sagt, dann ist auch klar, dass wir immer und jederzeit loslaufen und sogar die Richtung ändern können.
Ich glaube, dass in unserer Kultur das Wissen über Bindung sehr sehr lückenhaft ist, und dass viele da eine relativ unflexibel Vorstellung haben. Sie glauben, man muss sich im ersten Jahr um das Baby kümmern und immer auf das Baby reagieren, dann ist es sicher gebunden. Und dann kann man loslassen und es ist erwachsen. So ist das natürlich nicht.
Nora Imlau
Kinder brauchen Nähe und Freiheit
Unsere Kinder brauchen uns immer, aber sie brauchen nicht immer nur ganz viel Nähe. Das bestätigt auch Nora. Sie sagt: "Wenn man in die Bindungsforschung guckt, dann ist es ein dynamisches System von Nähe und Verbundenheit und Freiheit und Autonomie. Das muss miteinander in der Waage stehen, von Anfang an."
Wenn ihr mal drüber nachdenkt, dann lest ihr da auch den Satz von Goethe mit den Wurzeln und den Flügeln. Unsere Kinder brauchen immer beides. Und doch gibt es für Bindung kein Schema F.
Bindung ist immer individuell, sie passiert zwischen zwei Personen. Es ist formal nicht mal richtig, von einem sicher gebundenen Kind zu sprechen, weil die Frage dann immer lauten muss: Zu wem denn?
Nora Imlau
Bis zu 5 prägende Bindungsbeziehungen
Viele Alleinerziehende machen sich beispielsweise Sorgen, dass das Kind nur an sie gebunden ist. Nora Imlau aber erklärt, dass ein kleines Kind bis zu fünf prägende Bindungsbeziehungen mit Erwachsenen gleichzeitig haben kann. Und dass diese einem Wandel unterlegen sind. Wichtig ist, dass das Kind an mindestens eine Person sicher gebunden ist. Und, so Imlau, "wichtig ist auch zu wissen, es gibt keinen Moment an dem Bindung abgeschlossen ist. Das ist wie eine Pflanze, die man hegen und pflegen muss."
Viele von uns, die wir Eltern sind, hadern auch mit den Beziehungen zu den eigenen Eltern. Wenn man ein Kind bekommt, erlebt man ein Stück weit aus einer vollkommen anderen Perspektive noch mal Kindheit mit. Und das kann zu Problemen mit den eigenen Eltern führen.
Die Verantwortung liegt bei den Eltern
Wenn das bei euch der Fall ist und ihr dafür die Verantwortung bei euch sucht, denn will Nora euch etwas Entlastendes mit auf den Weg geben. "Bei der Bindungsbeziehung zwischen Eltern und Kindern liegt die Verantwortung für die Beziehung immer bei den Eltern. Wir brauchen von unseren Eltern das Gefühl, angenommen und geliebt zu sein."
Deswegen ist ihr Buch "Mein Famlienkompass" (für 22,99€ u.a. bei Amazon) auch nicht nur ein Buch für Eltern, sondern ganz sicher auch für Großeltern und eigentlich überhaupt alle Menschen, die sich für Bindung interessieren und etwas darüber lernen wollen. Denn überall wo Menschen in wie auch immer ausgestalteten Familienkonstellationen zusammenleben, ist dies Bindung ein Thema.
Das Bindungsthema bleibt ein Lebensthema. Wenn uns als Erwachsene das Gefühl fehlt, dass wir bedingungslos angenommen werden, dann können wir das manchmal auch nicht an unsere Kinder weitergeben. Es fällt uns jedenfalls viel leichter, wenn wir selbst emotional satt sind. Da haben wir als Erwachsene natürlich einen größeren Einfluss drauf, aber es bleibt ein Thema.
Nora Imlau
Elternsein findet auf zwei Zeitebenen statt
Nora Imlau erklärt in ihrem Buch auch, dass Elternsein auf zwei Zeitebenen stattfindet. Klingt erst mal komisch, aber ich wette, es ist bei den meisten von euch ein Thema. Denn wir alle kennen doch Situationen in denen wir denken: "Manno, warum kann mein Nachwuchs dies oder jenes denn heute nicht allein. Sonst klappt das doch immer."
"Wir haben einen Selbstständigkeitsfetisch", sagt Nora Imlau. Es gibt diesen Spruch, "Was Hans nicht lernt, lernt Hänschen nimmer mehr", den auch Nora in unserem Interview zitiert. Und den wir alle mal mindestens schon gedacht haben. Aber, so die Autorin, dem liegt ein Missverständnisse zugrunde.
"Zum Einen schwingt da mit, dass Kinder faul sind. Dass, wenn wir ihnen einmal die Schuhe anziehen, sie so bequem werden, dass wir das immer wieder machen müssen. Aber das steht im absoluten Widerspruch zu allem, was wir aus der Autonomieentwicklung wissen."
Müssen wir jetzt für immer helfen?
Wen die Vierjährige uns darum bittet, ihr die Schuhe anzuziehen, obwohl sie das eigentlich gut allein kann, dann ist da in unserem Hinterkopf sofort diese Stimme die sagt: Wenn ich jetzt helfe, dann muss ich das für immer machen und sie lernt es nie. Wenn wir uns aus der Situation lösen würden, wäre uns aber rasch klar, dass dieses "für immer" gar nicht stimmen kann. Haben wir wirklich Angst, dass unsere Kinder auch mit 12 Jahren von uns die Schuhe angezogen bekommen wollen? Eher nicht.
Nora Imlau: Kinder wünschen sich Fürsorge
Nora Imlau sagt dazu: "Es ist ein sehr fester Glaubenssatz, dass Kinder in dem Moment, wo sie etwas können, das immer tun müssen. Unsere Kinder wünschen sich, eine gewisse Fürsorge. Und gerade, wenn sie immer größer werden und uns weniger nah sind im Sinne von Tragen und Stillen, dann sind es diese kleinen Momente, in denen sie Fürsorge fordern, im Sinne von: Ich mach das für dich. Das sind Momente, in denen sie Bindung wachsen spüren."
Wir machen so viel für andere Erwachsene
Und das ist eigentlich ziemlich toll. Denkt mal an eure Partnerschaft, an Kollegen und Kolleginnen, Freund*innen. Wie oft tut ihr etwas für diese Menschen? Was wir für andere tun, das sollten wir auch für unsere Kinder schaffen.
In Erwachsenenbindungen tun wir doch ständig etwas füreinander, was der andere schon allein tun könnte. Aber warum fällt uns das bei unseren Kindern so schwer? Tragen, ausziehen, helfen, anziehen, all das sind Beziehungspflegemomente in denen wir unseren Kindern nonverbal vermitteln, du bist mir wichtig, ich sehe dich.
Nora Imlau
Das Bedürfnis hinter dem Bedürfnis
Wichtig ist, das erklärt Nora im "Familienkompass" auch immer wieder, ist, dass wir Eltern die Bedürfnisse hinter dem Bedürfnis wahrnehmen. Denn manchmal geht es gar nicht darum, dass ein Kind getragen werden möchte, weil es müde ist. Sondern viel mehr darum, dass der Tag doof war, dass Nähe fehlte und es ganz dringend jemanden braucht, der es wirklich in den Arm nimmt. Es geht ums Bekümmert werden. Wir alle kennen das, unsere Kinder können es nur manchmal nicht ganz so gut aussprechen.
Nora Imlau: Folgt eurem Nordstern
Bedürfnisse gehen nicht weg. Ihr könnt nicht ignorieren, was eure Kinder eigentlich von euch möchten. Denn sonst wird das Bedürfnis nur immer lauter, nehmt ihr eure Kinder als zunehmend schwieriger wahr. Weil sie immer lauter nach Fürsorge und Aufmerksamkeit schreien. Und dann ist es gut, wenn ihr da seid und zuhört. Und immer im Hinterkopf habt, dass Bindung ein lebenslanger Weg ist. Ihr schafft das. Und Noras Familienkompass kann euch dabei helfen, eurem eigenen Nordstern zu folgen, und den passenden Weg für eure Familie zu finden.
Mein Fazit
Als das Interview mit Nora beendet war, habe ich ihr gesagt, dass ich im ersten Moment überrascht war, dass ihr Buch diesen sehr gewichtigen Titel "Mein Familienkompass" trägt. Das hatte mich irgendwie überrascht, weil wir alle solche Titel von Männern, aber nicht von Frauen gewohnt sind. Und ich erklärte, wie sehr ich mich über diesen Gedanken ärgerte.
Aber immer offen über alles reden, ist gleichzeitig ein großer Schatz. Das gilt für solche Klischees, die auch ich in mir haben (denn wieso sollte Nora nicht dieses Buch mit diesem Titel schreiben können, sie hat Wissen, sie hat Erfahrung und sie kann schreiben) aber vor allem über das Elternsein. Denn was wir alle nicht brauchen ist ein überfrachtetes Idealbild. Viel mehr braucht es Tipps aus dem Leben und ein Austausch darüber, was uns nicht gelingt.
Bildquelle: Andrea Zschocher