Das heimliche Abziehen des Kondoms während des Sex ohne Zustimmung der Partnerin ist ein Sexualverbrechen. Doch die juristische Lage von “Stealthing” ist nicht eindeutig und macht es gerade den Opfern schwer zu realisieren, was mit ihnen passiert ist.
Stealthing wird häufig als "Sex-Trend" bezeichnet. Vielmehr ist es jedoch ein Sexualverbrechen, das Opfern auf gesundheitlicher und psychischer Ebene enormen Schaden zufügen kann.
Eine Frau und ein Mann haben Sex. Gemeinsam entscheiden sie vor dem Sex, dass sie ein Kondom zur Verhütung nutzen. Wie abgesprochen zieht der Mann das Kondom auch über. Bei einem Stellungswechsel nimmt er es jedoch heimlich ab – ohne, dass die Frau es mitbekommt. Stealthing nennt sich dieser Vorgang – ein Sexualverbrechen. Der Begriff Stealthing leitet sich aus dem Englischen Wort “stealth” ab, was so viel wie Heimlichkeit bedeutet. Passend, denn die Frau bemerkt meist erst nach dem Sex, was hier passiert ist.
Stealthing: Eine Straftat?
Als vor einigen Jahren das erste Mal öffentlich über Fälle von Stealthing geredet wurde, wurde es oft als neuer “Sextrend” beschrieben. Eine unpassende Betitelung, die den Vorgang stark verharmlost. Es ist eine Straftat – es ist Missbrauch. Missbrauch des Körpers und Missbrauch des Vertrauens.
Aus einvernehmlichem Sex wird uneinvernehmlicher. Denn die Einwilligung beider Partner erfolgte zum geschützten Geschlechtsverkehr, nicht aber zum ungeschützten. So sagt es zumindest das Gefühl. Die rechtliche Argumentation weicht davon etwas ab. Alexandra Brodsky, promovierte Juristin an der Yale University veröffentlichte 2017 einen Aufsatz zu Stealthing und beschreibt es darin als „eine schwerwiegende Verletzung der Würde und Selbstbestimmtheit“.
Welche Strafe droht bei Stealthing?
Ende 2018 wurde zum ersten Mal ein Mann vor dem Berliner Amtsgericht Tiergarten wegen Stealthing zu einer Bewährungs- und Geldstrafe verurteilt. Der 37-jährige Bundespolizist hatte beim Geschlechtsverkehr mit einer 21-Jährigen heimlich das Kondom abgezogen, obwohl sie ausdrücklich nur mit Kondom Sex haben wollte.
Das Gericht entschied, dass es sich nicht um Missbrauch handle, da der Geschlechtsverkehr grundsätzlich einvernehmlich war, das heimliche Weglassen des Kondoms aber eine unerlaubte sexuelle Handlung sei. Daher wurde der Täter zu acht Monaten auf Bewährung sowie einer Geldstrafe von mehr als 3.000 € verurteilt, wie Spiegel Online berichtete.
In Deutschland war es das erste Urteil dieser Art. Logisch, würde man denken, solch eine erniedrigende Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung gehört schließlich bestraft. Die Verhandlung von Stealthing-Fällen erweist sich tatsächlich allerdings als rechtlich kompliziert. Im Zweifel steht hier immer Aussage gegen Aussage. Denn auch wenn ganz klar kommuniziert wird, dass der Sex nur geschützt mit Kondom stattfindet, so muss man, wenn es zu einem solchen Vorfall kommt, auch beweisen können, dass der Partner das Kondom tatsächlich heimlich abgezogen hat. Im Falle des verurteilten 37-Jährigen gab es ein Chatprotokoll, in welchem er seine Tat zugegeben hatte. Doch so etwas kann natürlich nicht in jedem Fall als Beweismaterial herangezogen werden.
Dass Stealthing grundsätzlich ein sexuelles Verbrechen ist, das sollte jedoch klar sein. Oder? In der Schweiz wurde Anfang 2019 ein 20-jähriger Student für eine ähnliche Tat freigesprochen. Das Gericht begründete, dass der Sex einvernehmlich gewesen sei und es sich bei Stealthing lediglich um die “Missachtung der Spielregeln” handle.
Nur eine Missachtung von Spielregeln?
Doch Stealthing ist viel mehr als die Missachtung von Spielregeln. Es ist eine Tat, die enorme Konsequenzen mit sich führen kann – sowohl gesundheitlich als auch psychisch. Was es besonders schlimm macht: Beim Stealthing entfernt der Mann das Kondom im vollen Bewusstsein darüber, welche Folgen sein Verhalten für seine Sexpartnerin haben kann: Sexuell übertragbare Krankheiten wie HIV oder Hepatitis sowie eine ungewollte Schwangerschaft. Und diese möglichen Folgen lösen einen enormen psychischen Druck bei den Opfern aus, so beschreibt es Alexandra Brodsky in ihrer Studie, für welche sie sich mit Opfern von Stealthing unterhalten hat.
Abgesehen von der Furcht einer Schwangerschaft und sexuell übertragbaren Krankheiten empfinden Opfer laut Brodsky das Entfernen des Kondoms als entmächtigende, erniedrigende Verletzung ihrer sexuellen Autonomie. Beim Stealthing nutzen Täter eine Form von Macht, eine Sexualmacht, mit der sie sich rücksichtslos über den weiblichen Körper hinwegsetzen. Es ist eine respektlose Tat, bei der die Opfer stark gedemütigt werden.
Das Problem ist, dass die rechtliche Lage nicht eindeutig ist. Das hat ebenfalls eine Auswirkung auf die Opfer. So befragte Brodsky in ihrer Studie auch eine Frau namens Rebecca, selbst Opfer von Stealthing und Mitarbeiterin bei einer Hotline für Vergewaltigungsopfer. „Ihre Geschichten beginnen oft gleich“, berichtete sie gegenüber Brodsky: „Ich bin nicht sicher, ob das eine Vergewaltigung ist, aber...“ Dass Stealthing juristisch nicht klar einordbar ist, mache es für die Opfer umso schwerer zu realisieren, was da gerade passiert sei.
Worum geht es den Tätern?
Stealthing ist nur schwer zu begreifen. Daher ist ein Blick auf die Täter wichtig. Was bewegt Männer dazu, heimlich und ohne Einwilligung das Kondom zu entfernen? Stecken stumpfe Gedanken wie: “Ohne fühlt es sich einfach besser an” dahinter? Tatsächlich sind die Gründe wesentlich perfider, das lassen zumindest Berichte über Online-Foren anmuten, in denen sich Stealthing-Täter untereinander austauschen und sich Tipps geben.
Manchen geht es scheinbar einfach um den “Kick”, etwas unerlaubtes zu tun. Was jedoch stets ein gemeinsames Motiv zu sein scheint: Frauenfeindlichkeit. Laut Zeit Online sei den Schilderungen in den Foren zu entnehmen, dass alle Täter sich stark frauenfeindlich äußern und vor allem Schilderungen von Machtgefühlen dominieren: Die Macht über einen anderen Menschen und darüber, etwas gegen seinen Willen zu tun.
Stealthing: Wie schütze ich mich?
Doch was tun, um sich als Frau vor Stealthing zu schützen? Einen richtigen Schutz gibt es leider nicht, Schuld daran ist immer der Täter, nie das Opfer. Potenziell kann es jede Frau treffen, die mit einem Kondom verhütet. Ein paar Ratschläge gibt es dennoch:
- Vertrauen: Hört auf euer Bauchgefühl. Wenn ihr eurem potenziellen Sexualpartner nicht vertrauen könnt, solltet ihr euch gut überlegen, ob ihr wirklich mit ihm schlafen wollt.
- Frauenkondom: Bei One-Night-Stands oder ähnlichen Situationen ist das Gegenüber natürlich nur schwer einzuschätzen. Alternativ zum klassischen Kondom könnt ihr in solchen Fällen ein Frauenkondom nutzen. Damit haben Frauen die Macht über ihren Schutz vor einer Schwangerschaft und sexuell übertragbaren Krankheiten, denn das Kondom lässt sich vom Partner nicht einfach unbemerkt aus der Scheide entfernen.
- Bringt Stealthing zur Anzeige: Wenn ihr in eine solche Situation kommt, geht unbedingt zur Polizei und erstattet Anzeige. Dieser Schritt ist nie leicht, aber der Täter sollte für diese Form von Missbrauch unbedingt Konsequenzen zu spüren bekommen.
Redet darüber!
Doch wie bereits gesagt: Einen wirklichen Schutz dagegen kann es nicht geben. Hier geht es um Frauenfeindlichkeit und Machtfantasien, gegen die es leider kein Mittel gibt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Stealthing zum Thema machen und darüber reden.
Eine erste Anlaufstelle bei sexuellem Missbrauch oder Verdacht auf solchen kann das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch (0800 22 55 530) sein. Hier finden Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend, Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, Fachkräfte und generell Interessierte anonyme und kostenlose Hilfe. Wer sich nicht traut zum Hörer zu greifen, kann sich auch online beraten lassen. Die Webseite Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch beantwortet viele Fragen und hat weitere Kontakte für Hilfesuchende.