Wenn Teenager entdecken, dass sie auf das gleiche Geschlecht stehen, sind es oft nicht zuerst die Eltern, denen sie sich anvertrauen. Wir haben mit dem schwulen YouTuber Tommy Toalingling über sein Coming Out gesprochen und wie man als Elternteil seine Kinder am einfühlsamsten dabei begleitet, die zu werden, die sie sind.
Wann hast du persönlich gemerkt, dass du auf Jungs/Männer stehst?
"Tatsächlich kann ich jetzt als 30-Jähriger sagen: Ich wusste das schon im Kindergarten. Damals konnte ich das nur noch nicht greifen. In dem Moment, wo ich das gelebt habe, war es mir dann erst mit 15 klar. Da hab ich für mich gesagt: Da bin ich wohl bisexuell. Das war die reduzierte Art zu sagen, dass man homosexuell ist. Das finde ich im Nachhinein sogar schade, weil Bisexualität ja eine komplette Sexualität ist und nicht die Hälfte zum Schwul sein. Ich hab das damals sozusagen als Trittbrett benutzt. Mein persönliches Coming Out war also mit 15 und bei Freunden und Familie dann mit 16/17."
Weißt du noch, wann du bewusst davon gesprochen hast, dass du schwul bist? Erzähl doch mal von deinem Outing.
"Ich bin mit meinem Vater und der Stiefmutter aufgewachsen. Mit 11 hab ich erfahren, dass es meine Stiefmutter ist und nicht meine leibliche Mutter. Der Draht zu ihr war nie so wirklich da, das war eher zu meinem Vater. Aber der hat so viel gearbeitet, dass ich jetzt nicht mit Problemen direkt zu ihm gegangen bin. Ich hab das eher mit mir selbst und meinen Freunden ausgemacht.
Dann hab ich meiner besten Freundin am Telefon erzählt, dass ich mich mit einem Typen treffe. Das hat dann zufällig meine Stiefmutter gehört und sie ist dann gleich sehr offen auf mich zugekommen und ich hab es ihr erzählt. Sie hat sehr cool reagiert und meinte nur, dass es mein Vater ja jetzt auch wissen sollte. Abends hab ich mich dann mit ihm zusammengesetzt und er war gar nicht überrascht, sondern hat das wohl schon viel länger gewusst."
Coming Out: Ein großes Wort und als Teenager ein enormer Schritt, der bestimmt mit viel Angst und Verunsicherung verbunden ist. Warum ist das in unserer scheinbar so offenen Gesellschaft immer noch so ein großes Tabuthema?
"Ich muss leider sagen, dass die Toleranz eine Illusion ist, wenn man sich in einer bestimmten Bubble bewegt wie z. B. in der Medienbranche. Da sind die Leute toleranter und man ist dann natürlich oft auch nur von toleranten Menschen umgeben. Doch ich sehe an meiner Zuschauerschaft, wie wahnsinnig abgeschlossen die leben. Viele meiner Follower auf meinem YouTube-Kanal kennen oder haben niemanden, der queer ist. Das ist leider nicht überall so verbreitet.
Gerade in kleinstädtischeren oder religiöseren Gegenden wird das leider auch noch weniger in der Schule thematisiert. Da fragt man eben ein kleines Mädchen von 12: Na, hast du schon einen Freund? Durch die Fragen geht man automatisch von diesem heterosexuellen Stereotyp aus.
Eine Freundin von mir macht das mit ihrer Tochter, die bald in die Schule kommt, ganz toll: Wenn die Aussagen aus dem Kindergarten wie „Man muss einen Freund haben“ mit nach Hause bringt, sagt die Mutter: „Naja, oder eine Freundin…“ Die Kleine kennt auch mich und meinen Freund und hat das nie hinterfragt. Doch das ist nicht überall so, leider."
Die Findung der sexuellen Identität ist ja oft ein längerer Prozess und nicht immer ist das "in Stein gemeißelt". Manche Jugendliche probieren sich aus, andere wissen schon früh genau, wer sie sind und was sie wollen. Doch wie kann man diesen Prozess als Elternteil am einfühlsamsten begleiten?
"Ich sehe bei vielen Eltern eine große Gefahr im Kopf: Wenn ich mein Kind jetzt so offen und frei erziehe mit allen Möglichkeiten, dann wird das auch so. Aber die Sexualität ist ja keine Erziehungssache. Nur weil man die Toleranz und die Möglichkeiten so vorlebt, heißt das dann nicht, dass die Kinder auch auf jeden Fall so werden. Wenn man ein gesundes Interesse am Kind hat und es berichtet: Da haben sich zwei Jungs geküsst oder zwei Mädchen, da kann man eben erwähnen, was es noch alles gibt.
Bei der Frage „Hast du einen Freund?" sollte man öfter ergänzen „oder eine Freundin“, wenn man das jetzt unbedingt wissen möchte. Wenn das Kind ab dem Kindergarten so aufwächst, dass es viele Möglichkeiten der Liebe gibt, hat es nicht die Blockade „oh mein Gott, ich kann mit meinen Eltern darüber nicht sprechen“.
Meine Eltern haben das leider nicht gemacht. Das Wort „schwul" war immer etwas sehr Negatives und dann wurde ich immer nur gefragt, ob ich eine Freundin hätte. Mein Vater sagte dann immer: Entweder Tommy wird mal schwul oder Frauenheld. Ich hatte damals nur Mädels in meinem Freundeskreis und daher stand das für ihn so fest. Für mich war „schwul“ sein daher so negativ behaftet."
Was sollten Eltern auf keinen Fall tun, wenn sie denken, ihre Kinder könnten homosexuell sein bzw. trauen sich nicht, dies zu offenbaren?
"Die direkte Frage „Bist du schwul?“ würde ich den Eltern nicht raten. Das setzt die Person nur unter Druck, etwas sagen zu müssen. Wenn ich nein sage, lüge ich als Kind und wenn ich ja sage, dann ist das wieder so ein Druck, dass man dann anders als heterosexuell ist. Dabei ist es ja keine Pflicht, seine Sexualität öffentlich zu machen. Von den Eltern würde ich mir wünschen, dass man offen kommuniziert.
Beim Thema Beziehung und Sexualität sollte man immer von „Partner oder Partnerin“, „Freund oder Freundin“ reden und diese Varianten einfach in den Alltag einfließen lassen. So signalisiert man gute Botschaften, die das Kind wahrnimmt. Wenn es dann bereit ist, wird es von alleine kommen und das erzählen. Wenn man sein Kind durch Fragen unter Druck setzt, könnte es passieren, dass es sich nie outet. Dann zieht es vielleicht mit 18 aus und bricht im schlimmsten Fall den Kontakt ab, weil man sich ja zu Hause nie wohl gefühlt hat und verstecken musste."
Schwul, lesbisch, bi, trans ... Es gibt für alles eine Schublade, in die man passen "muss". Für manche Jugendliche ist es sicher wichtig, sich zu outen, doch andere verunsichert das vielleicht, weil sie sich zu etwas bekennen „müssen“. Da herrscht ein großer Druck, oder?
"Der Druck ist vor allem in der Pubertät wahnsinnig hoch. Das ist schon für heterosexuelle Jugendliche ziemlich schlimm. Wenn man z. B. auf die Suizidrate schaut, ist der Anteil der LGBTQ+-Jugendlichen sehr viel höher als bei heteronormativen Kindern und Jugendlichen. Das zeigt ja schon, wie schlimm das in dem Bereich ist und wie sehr man sich unter Druck gesetzt fühlt. Man muss irgendwo reinpassen, muss sich outen. Das finde ich sehr sehr schade.
Ich selbst sage aber immer, ein Outing ist sehr heilsam und sinnvoll. Man hat es ausgesprochen, Klarheit geschaffen und gesagt: Ich bin nicht heterosexuell, ich weiß noch nicht, was ich bin, aber damit müssen wir jetzt alle umgehen. Man kann so viel freier leben und muss nicht versteckt daten oder Ausreden finden.
Tommy Toalingling
Ein Outing löst diesen Druck oft, kann aber auch nach hinten losgehen. Je nachdem, wie das Gegenüber reagiert. Das ist häufig so ein Zwiespalt. In den meisten Fällen in Deutschland ist ein Outing nicht so schlimm, wie man sich das vorher vorstellt.
Ich gebe da den Tipp, dass man das so nebenbei in den Alltag einbaut und mal von einem gleichgeschlechtlichen Paar in der Schule oder in einer Serie erzählt. Dann kann man sich die Reaktion der Familie bzw. der Bekannten erst einmal ansehen. Mit der Person, die dann am positivsten reagiert, kann man sich austauschen. Das muss nicht die Mutter oder der Vater sein, das kann auch der Onkel oder der Nachbar sein, einfach eine erwachsene Person. Den könnte man dann um Rat fragen, wie man es den Eltern denn sagen könnte."
Das totale Klischee-Beispiel: Mein 13-jähriger Sohn trägt gern Kleider und schminkt sich. Wie reagiere ich hier am einfühlsamsten?
"Ich würde als Elternteil dem Kind kommunizieren, dass es völlig okay ist, wenn es sich ausprobiert. Mancher Vater ist dann vielleicht so über motiviert, dass er sich die Nägel lackiert oder sich ein pinkes Shirt anzieht, wenn er den Sohn zur Schule bringt. Man muss einfach als Eltern offen und zugänglich für solche Themen sein. Aber nur weil jemand sich in einer bestimmten Farbe die Finger lackiert oder Reitunterricht hat, hat das nichts mit der Sexualität zu tun.
Ich kenne selbst viele heterosexuelle Männer, die sich die Finger lackieren, weil das zu ihrem Style gehört. Man muss versuchen, Sexualität und Modegeschmack zu trennen. Deswegen find ich es auch vollkommen einschränkend, wenn Mädchen immer nur pink tragen und Jungen nur blau. Warum kann nicht auch ein Junge eine Prinzessin sein, wenn er das möchte? Wenn man das so kommuniziert, dann wachsen die Kinder da so auf, dass das möglich ist und rein gar nichts mit ihrer Sexualität zu tun hat."
Lieben Dank für
In Tommys erstem Buch erzählt er von seinem Outing und hat viele Tipps zum Thema Querness und dem Finden der eigenen Sexualität parat:
Wenn die 16-jährige Tochter eine Freundin hat, die ständig bei ihr übernachtet und die Eltern vermuten, dass da mehr dahinter steckt. Sollte man die beiden darauf ansprechen, ob sie ein Paar sind?
Ich finde, wenn es die ersten drei oder vier Besuche sind, würde ich es nicht ansprechen. Denn man hat ja oft gleichgeschlechtlichen Besuch, ohne dass da was dahinter steckt. Aber wichtig ist, dass man offen kommuniziert, dass man völlig okay findet, dass es gleichgeschlechtliche Beziehungen gibt. Doch es ist besser, nicht vor der vermeintlichen „Freundin“ oder dem „Freund“ diese Frage zu stellen, das kann sehr unangenehm für das Kind sein und vollkommen nach hinten losgehen.
Leider gibt es ja bei uns nicht dieses englische Girlfriend und Boyfriend, wo es eindeutig ist. Doch als Elternteil sollte man das einfach offen halten, ob es „eine Freundin“ oder „deine Freundin“ ist. Irgendwann wird sich das im Gespräch dann ergeben und das Kind merkt, dass es gar kein Problem wäre, wenn die Eltern rausfinden, dass da mehr als Freundschaft ist.
Thema Mobbing in Schule oder Internet: Ich bekomme mit, dass mein Kind wegen seiner Sexualität gemobbtz wird. Was kann bzw. sollte ich tun?
Wenn Eltern merken, dass das Kind aufgrund seiner Sexualität gemobbt wird, dann sind sie sich derer ja schon bewusst. Dann wäre der allererste Schritt, das Kind anzusprechen und zu fragen: „Was würdest du wollen, das wir machen? Dann würde ich die ganzen Optionen durchgehen: Wir kontaktieren den Lehrer, dann kontaktieren wir die Eltern der Person, die dich mobben und setzen uns dann gemeinsam hin. Wär das okay für dich oder würde es das nur schlimmer machen?“
Im Wesentlichen fände ich es am sinnvollsten, den Vertrauenslehrer auch hinzuzuholen und dann diese Option zu besprechen, wie man das Thema behandeln kann, ohne dass jeder in der Schule gleich Bescheid weiß. Man könnte z.B. auch eine LGBTQ+-Regenbogenwoche initiieren, wo man Projektarbeit hinsichtlich der sexuellen Vielfalt macht und die Klasse aufklärt. Sobald die Klasse dann gemeinsam darüber redet und aufgeklärt ist, stärkt das auch die einzelne Person, weil andere Leute sich dafür einsetzen. Man sollte sich als Schüler immer Verbündete suchen, die man im Rücken hat.
Wenn die Eltern allerdings nicht wissen, dass das Kind aufgrund der Sexualität gemobbt wird, ist es schwieriger. Dann ist das natürlich etwas anderes und man muss erst einmal herausfinden, warum es gemobbt wird und das Gespräch mit dem Kind suchen.
Offline bekomme ich das Mobbing vielleicht eher mit, wenn das Kind mit mir darüber spricht bzw. merke es an seinem Verhalten, es zieht sich vielleicht zurück oder verhält sich einige Zeit sehr anders als sonst. Online könnte ich es mitkriegen, wenn ich seine Insta- und Facebook-Kanäle kenne. Viele Eltern sind da sicherlich recht hilflos, wie sie da vorgehen sollten …
Deswegen habe ich mein LGBTQ+-Social Media Camp organisiert und versuche, da bei den Kindern direkt anzusetzen. Ich hoffe, dass Eltern und Schüler dann auch aufmerksam werden und die Themen dann in den Alltag mit integrieren. Die Schulen haben leider sehr wenig Geld dafür. Man kann mich zu Social Media-Themen auch buchen und ich komme und mache Workshops zu den Themen.
Es gibt so viele tolle Einstellungen, die Instagram und Co. anbieten, dass man gewisse Wörter blockiert, die einem nicht angezeigt werden sollen, dass man seine Profile privat schalten kann. Ich möchte vermitteln, dass nur Leute, die man wirklich kennt, einem folgen sollten und eine große Followeranzahl überhaupt keinen Wert hat. Es muss in den Köpfen was passieren.
Wenn Eltern versuchen, das Kind zu warnen, es soll keine bestimmten Links anklicken oder Daten herausgeben, dann kommt das in den seltensten Fällen beim Kind richtig an. Besser ist es, gemeinsam Hasskommentare herauszusuchen und diese in etwas Positives zu formulieren. Bei hateaid.org gibt es z.B. eine hilfreiche Anleitung, wie man mit Hasskommentaren umgehen kann. Die Möglichkeiten sind zahlreich, wenn man sich damit beschäftigt. Man kann auch über IP-Adresse an die Identität der Leute kommen, die Cybermobbing betreiben. Also liegt es sehr an den Eltern und an den Lehrern, sich zu informieren oder sich Personen zu holen, die da helfen können.
Natürlich darf man auch das Handy eines Kindes kontrollieren, vor allem wenn es noch keine 13 ist. Denn die meisten Social Media Apps sind erst ab 13 Jahren zugelassen und dass sollte man kontrollieren. Das Handy kann kindergerecht eingerichtet werden, sodass bestimmte Apps nicht nutzbar sind. Man kann das mit Beispielen erklären und was dabei passieren kann. Das muss man gar nicht heimlich machen, sondern sollte das mit dem Kind zusammen klären, weil das hinter seinem Rücken ein großer Vertrauensmissbrauch wäre.
Was rätst du den Jugendlichen und Eltern generell noch zu dem Thema?
Ich fände es großartig, wenn sich Eltern mehr miteinander vernetzen würden zu solchen Themen. Sie könnten z. B. eine Initiative starten und untereinander Geld sammeln, um für die Klasse einen Workshop mit einem Social-Media-Fachmann zu organisieren. Dann sind die Kinder schon mal wachgerüttelt und die Eltern sind vielleicht auch dabei und lernen für sich selbst auch nochmal einiges. Es gibt auch tolle YouTube-Videos zum Thema „Wie gehe ich mit Hass im Internet um“.
Wichtig ist auch, dass Eltern sich bewusst sind, dass hinter allen Kommentaren und Äußerungen im Netz bzw. auf dem Handy reale Menschen und Kontakte stecken. Daher ist ein Handyentzug auch der Entzug vom sozialen Leben des Kindes. Das Handy selbst ist nicht Schuld an den Problemen, die es im Netz geben kann."
Im Juni feiert die queere Community den Pride Month. An diese historischen Ereignisse erinnert der Regenbogen-Monat:
Bildquelle: André Köster