Welche Möglichkeiten hat ein Mann, dessen Traum vom eigenen Kind zerplatzt? Er könnte über Co-Elternschaft nachdenken – oder ein Pflegekind aufnehmen. Das klingt jetzt so einfach, tatsächlich ist es doch etwas komplizierter. Buchautor Tobias Wilhelm ist diesen herausfordernden Weg tatsächlich gegangen und zwar allein. Er beschreibt in folgendem Gastartikel, weshalb er in seiner Umgebung oft auf Unverständnis stieß und warum es heute sein größtes Glück ist, Pflegepapa zu sein.
Der folgende Artikel ist ein Gastartikel von Tobias Wilhelm.
Papa auf Knopfdruck
"Vor vier Jahren habe ich einen Pflegesohn aufgenommen, mit dem ich seither durch dick und dünn gehe. Vor der Aufnahme hatte ich einen starken Kinderwunsch, den ich aufgrund meiner eingeschränkten Zeugungsfähigkeit nicht ohne weiteres realisieren konnte. Durch eine Werbung, die ich zufällig in der U-Bahn gesehen hatte, kam ich darauf, Pflegevater zu werden. Der Überprüfungsprozess dauerte ungefähr ein Jahr und dann stand auch schon das erste Kind vor mir, das ich gleich aufgenommen habe.
"Von heute auf morgen, wie auf Knopfdruck, war mein Leben ganz anders. Ich habe diesen Schritt nie bereut, da ich ein tolles Kind kennen- und lieben lernen durfte, das dringend ein neues Zuhause brauchte."
Sein erster richtiger Ausraster zeigte mir, dass er bei mir angekommen war
Obwohl ich die Entscheidung, Pflegevater zu werden, sehr bewusst getroffen habe, kam dann doch alles sehr plötzlich. Ich erinnere mich noch gut an den Anruf der Sozialarbeiterin, die mich ziemlich formell über ihr „Vermittlungsangebot“ informierte. Wenige Wochen darauf hatte ich ein anderthalbjähriges Kind auf der Rückbank, mit dem ich zu meiner Wohnung fuhr.
Wir hatten uns schon ein paar Mal getroffen, uns kennengelernt und doch waren wir füreinander zwei Fremde. Mein Pflegesohn sprach damals gerade fünf, sechs Wörter, konnte sich verbal also kaum ausdrücken. Nicht nur deshalb war es schwierig, seine Bedürfnisse, Wünsche und Ängste zu erfahren. Wie so viele Pflegekinder passte er sich in den ersten Monaten sehr stark an und checkte erstmal aus, wie ich so drauf war und was von ihm erwartet wurde.
Das erste Anzeichen, dass er langsam bei mir ankam, war ein waschechter Ausraster: Auf dem Weg zum Spielplatz fiel meinem Sohn auf, dass ich seine Schippe vergessen hatte. Statt so etwas, wie bisher, einfach still hinzunehmen, brüllte er so lange „buddeln“, bis wir umgedreht und die Schaufel geholt hatten. Endlich gelang es meinem Pflegesohn, sich so ungestüm und direkt auszurücken, wie es sich für sein damaliges Alter gehörte.
Über Tobias Wilhelm
Tobias Wilhelm (Jahrgang 1988, in Wiesbaden geboren) studierte Drehbuch und Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg. Der Autor veröffentlichte 2019 seinen Debütroman "Weißer Asphalt" im Hanser-Verlag. Mit seinem Pflegesohn lebt er in Berlin.
Über das Thema Pflegschaft und seine Erfahrungen mit dem Jugendamt schreibt er einfühlsam in seinem erzählenden Sachbuch "Sowas wie dein Papa". Er berichtet offenherzig, welchen Hürden sich werdende Pflegeeltern stellen müssen, was sie erwartet und wie der Alltag mit einem Pflegekind aussehen kann. Dazu sammelte er Geschichten und Berichte vieler ihm bekannter Pflegeeltern und gestaltete daraus sein Sachbuch, das nicht rein autobiografisch ist:
"Die geschilderten Begebenheiten wurden mir von anderen Pflegeeltern oder Sozialarbeiter*innen berichtet, der Fachliteratur entnommen, teilweise sind sie mir selbst vertraut. Die Geschichte, die ich erzähle, ist wie ein Puzzle aus verschiedenen Erfahrungswerten zusammengesetzt. Der Antrieb für das Buch ist, eine größere Aufmerksamkeit für dieses Thema und die damit einhergehenden Schicksale zu schaffen."
So übergriffig reagierte mein Umfeld
Als ich meine Verwandten, Freund*innen, direkten Nachbar*innen, Arbeitgeber*innen und Kolleg*innen darüber informierte, dass ich bald einen Pflegesohn aufnehmen würde, fanden das die meisten „wahnsinnig spannend!“ Es folgten die immer gleichen Fragen: „Warum ein Pflegekind?“, „Was ist denn mit der Mutter?“, „Ist er behindert?“
Anfangs beantwortete ich all dies noch bereitwillig. Erst nach einer Weile bemerkte ich, wie grenzüberschreitend einige dieser Fragen waren. Mir wurde damals klar, dass ich als Pflegevater ein Außenseiter war, der bei bestimmten Themen nicht mitreden konnte und mit seinen Problemen zunächst ziemlich alleine dastand. In einer Krabbel- und Spielgruppe, die ich regelmäßig besuchte, sollten beispielsweise alle Eltern von der Geburt ihres Kindes erzählen. Da ich mich vor völlig Fremden nicht sofort als Pflegevater outen wollte, flüchtete ich damals in den Wickelraum.
Nach vier Jahren habe ich mich inzwischen gut in meine Rolle eingefunden und trete nach außen hin deutlich selbstbewusster auf als damals. Unpassende Fragen beantworte ich nicht mehr und in vielen Situationen bin ich einfach „der Papa“, statt „der Pflegepapa“.
Der schönste Moment als Pflegevater: “Sowas wie dein Papa.”
"Anfangs wusste mein Sohn nicht, was ein Papa ist. Vor mir hatten sich nämlich ausschließlich Frauen um ihn gekümmert."
Menschen, die sich mit Kindern beschäftigen, waren für ihn deshalb ausnahmslos Mamas. Auch ich wurde so genannt. Unter Zuhilfenahme einiger Bilderbücher versuchte ich ihm das „Konzept Papa“ zu erklären. Zunächst ohne spürbaren Effekt. Doch dann zeigte mein Sohn auf der Straße oder auf dem Spielplatz immer öfter auf Männer, die mit ihren Kindern unterwegs waren und fragte zaghaft: „Papa?“ Eines Tages dämmerte ihm schließlich beim Wickeln, dass auch ich so einer sein musste. Mit großen Augen und offenstehendem Mund starrte er mich an: „Papa?“ „Ja, ich bin sowas wie dein Papa“, antwortete ich. Seitdem nennt er mich immer so.
Warum sich der ganze Stress dennoch lohnt
Seit ich Pflegevater bin, stelle ich mir kaum noch die Sinnfrage. Ich weiß, dass ich von meinem Kind gebraucht werde und es sich ohne mich nicht so gut entwickeln würde. An seinem Beispiel sehe ich, dass sich die meisten Kinder auch nach einem holprigen Start ins Leben noch gut entwickeln können, wenn ihnen die richtigen Bedingungen geboten werden.
Als ich einer Nachbarin damals davon erzählte, dass ich bald ein Pflegekind aufnehmen würde, freute sie sich total. „Ich hole meine Hunde auch immer aus dem Tierheim und nicht vom Züchter“, meinte sie. Tatsächlich macht es super viel Sinn, erstmal die Kinder gut zu versorgen, die eh schon da sind
"Besonders kleine Kinder verkümmern im Heim sehr schnell und sind in einer liebevollen Familie deutlich besser aufgehoben. Auch, wenn die ein oder andere Unwägbarkeit mit der Aufnahme einhergeht, wird man mit bedingungsloser Liebe belohnt."
Pflegekind aufnehmen: Kann ich das auch?
Wenn es dir nicht so wichtig ist, dass dein Kind dieselben Gene wie du hat und du eine soziale Ader hast, sind das schon mal gute Startbedingungen. Ob es wirklich passt, findest du dann zusammen mit dem Jugendamt oder einer Familienberatungsstelle heraus.
"Wichtig ist, dass du dir selbst gegenüber ehrlich bist und deine Wunschvorstellungen an die Realität anpasst."
Wenn man mit dem Gedanken spielt, ein Pflegekind aufzunehmen, sollte man sich erstmal klar machen, dass ein Pflegekind kein leibliches Kind „ersetzt“. Allgemein ist man in einem Pflegeverhältnis auf eine gute Kooperation mit dem Jugendamt und der Herkunftsfamilie angewiesen. Doch nicht immer gelingt diese. Manche Herkunftseltern fordern beispielsweise die Rückführung ihres Kindes und ziehen deshalb vor Gericht. Manchmal stellen sich bei wichtigen Entscheidungen auch das Jugendamt oder andere Beteiligte quer.
Eine gewisse Frustrationstoleranz, sowie eine Prise Idealismus schaden also nicht. Im Ernstfall muss man dazu bereit sein, mit harten Bandagen um das Wohlergehen seines Pflegekindes zu kämpfen. Die gute Nachricht ist, dass man nie alleine kämpft. Es gibt exzellente Familienrechtsanwält*innen und Sozialarbeiter*innen, die einem zur Seite stehen, wenn es kritisch wird. Trost und Zuspruch kann man sich bei anderen Pflegeeltern holen."