High Need Kinder sind für ihre Eltern eine echte Herausforderung. Sie brauchen viel Nähe und Körperkontakt. Ihr leichter Schlaf und ihre überbordenden Bedürfnisse bringen viele Eltern an ihre körperlichen und geistigen Grenzen. Doch wie sieht der Alltag mit einem High Need Kind im Detail aus?
Was genau bedeutet es, High Need Kinder zu haben?
Viele, starke Bedürfnisse bestimmen unseren Alltag. Manche Mamas und Papas beschreiben ihren Nachwuchs als „24-Stunden-Kinder“, weil eigentlich immer irgendetwas ist. Ein emotionaler Ausbruch, ein ungestilltes Bedürfnis oder ein starkes Interesse, das Aufmerksamkeit verlangt. Ein anderer guter Vergleich ist es, von mehreren Kindern in einem zu sprechen. Von außen ist dieses intensive Leben nur schwer sichtbar, und noch viel schwerer zu verstehen.
Die Energie und Liebe, die die meisten Kinder in einem Entwicklungsschub einfordern, benötigt ein High Need Kind nicht nur phasenweise, sondern immer. Die starken Bedürfnisse, die unseren Alltag prägen, bleiben. Dabei handelt es sich nicht um eine diagnostizierbare Krankheit, sondern um eine natürliche Spielart des menschlichen Seins. Das zeigt sich auch an der Hirnstruktur. Die Amygdala, die Gruppe an Zellen, die unser Panikzentrum bilden, ist bei High Need Kindern vergrößert, der Vagusnerv häufig in seiner Reaktion geschwächt. Bei manchen Kindern ist auch der Serotoninspiegel niedriger und ein bestimmtes Serotonin-Transporter-Gen steht im Verdacht, diese Art von Hochsensibilität mit auszulösen.
Wie unterscheiden sich High Need Kinder von gefühlsstarken Kindern?
Häufig stolpern Eltern, die sich über ein High Needs Baby informieren, auch auf den Begriff „gefühlsstark“. Laut der Familienexpertin und Fachautorin Nora Imlau, die den Ausdruck mit geprägt hat, zeichnen sich gefühlsstarke Kinder durch Energie, Begeisterungsfähigkeit und Lebensfreude aus. Familie.de-Redakteurin Charoline Bauer hat mit ihr über das Thema gesprochen:
Im Englischen spricht man analog dazu vom „spirited child“. Wie High Need Kinder bringen sie also von allem mehr mit. Die Schnittmengen sind groß und die Übergänge fließend, bis in den Bereich der Hochsensibilität hinein. Dabei liegt der Fokus bei den gefühlsstarken Kindern vor allem auf ihrem intensiven Erleben von Emotionen – eine Eigenschaft, die sie mit High Needs Kindern teilen.
Deshalb unterscheidet sich der Alltag von Eltern, die ein High Need Kind daheim, meistens deutlich von dem Alltag anderer Kinder.
High Need Kinder im Alltag
Was für manche Eltern ein ganz normaler Morgen ist, kann für die Mamas und Papas, die ein High Need Kind begleiten, bereits eine einzige Herausforderung sein. Die Temperatur im Schlafzimmer ist zu kalt? Dann wird nicht aufgestanden. Die Lieblingshose ist überraschenderweise in der Wäsche? Es folgt eine zwanzigminütige, intensive Diskussion darüber, was und ob überhaupt heute noch etwas angezogen werden kann.
Die fehlende Lieblingszahnpasta kann ein Grund für einen Meltdown sein, ebenso die Textur des Frühstücks. Das Anziehen kann auf lange Sicht ebenso ein Thema bleiben wie die Körperpflege. All das macht den Alltag mit High Need Kindern zu einer Herausforderung.
Eins ist der Alltag mit High Need Kindern jedoch sicherlich nicht: langweilig.
Die gesteigerte Aufmerksamkeit, die Gefühlen und Veränderungen entgegengebracht wird, bedeutet auch, dass diese Kinder die Welt immer wieder neu und mit Begeisterung entdecken. Ohne unsere Tochter wären mir im tagtäglichen Allerlei eine Vielzahl schöner, winziger Momente entgangen. Manche Dinge werden durch die gesteigerte Aufmerksamkeit unfassbar schnell verstanden.
Ich habe mit meiner Zweijährigen schon über Kinderarbeit oder Erdölproduktion gesprochen. Mittlerweile ist sie fünfeinhalb Jahre alt und lernt ihre dritte Sprache. Aber das schützt uns nicht vor dem Weltschmerz, den die falsche Zahnpasta am Morgen auslösen kann.
Tipps um High Need Kinder richtig zu begleiten
Dennoch gibt es natürlich eine Reihe Tipps, die auch den Alltag für alle entspannter und leichter machen können, gerade wenn das Kind untröstlich in Tränen aufgelöst ist.
- Ruhig bleiben, auch in emotional aufwühlenden Momenten
- Geduldig sein, wenn das Kind sich reguliert
- Erwartungen ablegen und auf den Ist-Moment schauen
- Meditieren und auf den eigenen Atem achten.
- Für uns selbst sorgen – wir Eltern sind der Anker
- Austausch mit anderen Eltern suchen – von außen hagelt es oft Unverständnis.
Vorwurf: High Need Kinder sind einfach nur verzogen!
Wer einmal die irritierten bis verärgerten Blicke ertragen musste, weil das eigene Kind scheinbar aus dem Nichts einen kolossalen Schreianfall hingelegt hat, weil ihr im Restaurant versehentlich das falsche Getränk bestellt habt, bei dem kriecht diese Stimme irgendwann unweigerlich ins Hirn: „Dein Kind ist doch gar nicht besonders, sondern einfach nur verhätschelt! Immer dieses Trösten und auf ein Podest stellen! Niemals schläft es allein, wird immer sofort getröstet! Wie soll es da denn lernen, sich zu kontrollieren… das wird noch mal ein richtiger Tyrann.“
Diese Sätze haben wir alle in der einen oder anderen Form gehört. Und jetzt, wo ich sehe, wie fantastisch sich unser Kind in seiner ganz eigenen Weise entwickelt, kann ich aus vollem Herzen sagen: Nein, wir haben keinen Tyrann zu Hause. Und ihr auch nicht. Unsere Kinder verhalten sich nicht so, um uns zu ärgern. Sie tun es für sich, nicht gegen uns. Sie regulieren sich in anderer Form als andere Kinder. Es ist eine Form der Hilflosigkeit, die sich überwältigend für einen so kleinen Menschen anfühlt. Stellt euch vor, ihr wärt ständig überfordert oder verängstigt. Und dann ist da ein Elternteil, der euch Halt gibt. Wie wertvoll sich das anfühlen würde!
Wenn ihr ein High Need Kind daheim habt: Ihr macht nichts falsch. Der Alltag mit einem solchen Kind ist schwer genug. Ihr dürft das schlechte Gefühl ablegen. Ignoriert solche Stimmen. Ihr braucht eure Kraft für euer Kind. Denn all die besonderen Momente, die wertvollen Seiten, die sich oft erst im Verborgenen entfalten, sehen diese Menschen vielleicht nicht.
Auch Expertin Nora Imlau rät im Video-Interview, innerlich einen Schritt zurückzutreten, wenn mehr Vorwürfe als Verständnis aus dem Umfeld kommen:
Was toll an High Need Kindern ist
Das Besondere an einem Alltag mit einem High Need Kind ist, dass wir uns andauernd hinterfragen. Wir leben ein intensives Leben. Wir beschreiten regelmäßig neue Pfade, weil wir es müssen. Wir haben eine mutige, kleine Entdeckerin zu Hause, die um die Ecke denkt und uns damit bis auf die andere Seite der Erde gebracht hat, in die staubigsten Winkel Indiens und auf die grünsten Hügel Indonesiens. Ja, sie bringt uns manchmal fast um den Verstand. Aber sie reißt uns auch mit in ihre Welt. Und das ist zauberhaft.