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Märchen

Das singende springende Löweneckerchen (8-10 Jahre)

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Es war einmal ein Mann, der hatte eine große Reise vor, und beim Abschied fragte er seine drei Töchter, was er ihnen mitbringen solle. Da wollte die älteste Perlen, die zweite Diamanten, die dritte aber sprach: „Lieber Vater, ich wünsche mir ein singendes, springendes Löweneckerchen.“ (Lerche, die Redaktion). Der Vater sagte: „Ja, wenn ich es kriegen kann, sollst du es haben.“ Er küsste alle drei und zog fort. Als nun die Zeit kam, dass er wieder auf dem Heimweg war, hatte er Perlen und Diamanten für die zwei Ältesten, aber das singende, springende Löweneckerchen für die Jüngste hatte er umsonst aller Orten gesucht, und das tat ihm leid, denn sie war sein liebstes Kind.

Da führte ihn sein Weg durch einen Wald und mitten darin war ein prächtiges Schloss. Und nahe am Schloss stand ein Baum, ganz oben auf der Spitze des Baums aber sah er ein Löweneckerchen singen und springen. „Ei! du kommst mir noch recht!“ sagte er ganz vergnügt und rief seinem Diener, er solle hinaufsteigen und das Tierchen fangen. Als der aber an den Baum herantrat, sprang ein Löwe darunter auf, schüttelte sich und brüllte, dass das Laub an den Bäumen zitterte: „Wer mir mein singendes, springendes Löweneckerchen stehlen will, den fresse ich auf!“

Da sagte der Mann: „Das hab ich nicht gewusst, dass der Vogel dir gehört; ich will mein Unrecht wieder gut machen und mich mit schwerem Golde freikaufen. Lass mir nur das Leben.“ – Der Löwe sprach: „Dich kann nichts retten, außer wenn du mir zu eigen versprichst, was dir daheim zuerst begegnet. Tust du das, so will ich dir das Leben schenken und den Vogel für deine Tochter obendrein.“ Der Mann aber wollte nicht und sprach: „Das könnte meine jüngste Tochter sein, die hat mich am liebsten und läuft mir immer entgegen, wenn ich nach Haus komme.“

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Dem Diener aber war angst und er sagte: „Muss Euch denn gerade Eure Tochter begegnen. Es könnte ja auch eine Katze oder ein Hund sein!“ Da ließ sich der Mann überreden, nahm das singende, springende Löweneckerchen und versprach dem Löwen, dass er das bekäme, was ihm daheim zuerst begegnen würde.

Als er nun zu Haus einritt, war das erste, was ihm begegnete, niemand anders als seine jüngste, liebste Tochter; die kam gelaufen und küsste und herzte ihn, und als sie sah, dass er ein singendes, springendes Löweneckerchen mitgebracht hatte, war sie außer sich vor Freude. Der Vater aber konnte sich nicht freuen, sondern fing an zu weinen und sagte: „O weh! Mein liebstes Kind, den kleinen Vogel hab ich teuer gekauft, dafür hab ich dich einem wilden Löwen versprechen müssen, wenn er dich hat, wird er dich zerreißen und fressen.“ Und erzählte ihr da alles, wie es zugegangen war und bat sie, nicht hinzugehen, es möge auch kommen, was wolle.

Sie aber tröstete ihn und sprach: „Liebster Vater, was Ihr versprochen habt, muss auch gehalten werden. Ich will hingehen und den Löwen schon besänftigen, dass ich wieder gesund zu Euch heim kommen kann.“ Am nächsten Morgen ließ sie sich den Weg zeigen, nahm Abschied und ging getrost in den Wald hinein. Der Löwe aber war ein verzauberter Königssohn und bei Tag ein Löwe, und mit ihm wurden alle seine Leute zu Löwen, in der Nacht aber hatten sie ihre natürliche Gestalt wieder. Bei ihrer Ankunft ward sie freundlich empfanden und in das Schloss geführt. Als die Nacht kam, war er ein schöner Mann und die Hochzeit ward mit Pracht gefeiert. Sie lebten vergnügt miteinander, wachten in der Nacht und schliefen am Tag.

Eines Tages kam er und sagte: „Morgen ist ein Fest in deines Vaters Haus, weil deine älteste Schwester heiratet, und wenn du Lust hast hinzugehen, so sollen dich meine Löwen hinführen.“ Da sagte sie, ja, sie möchte gerne ihren Vater wieder sehen, fuhr hin und ward von den Löwen begleitet. Da war große Freude, als sie ankam, denn sie hatten alle geglaubt, sie wäre von dem Löwen zerrissen worden und schon lange nicht mehr am Leben. Sie erzählte aber, was sie für einen schönen Mann habe und wie gut es ihr gehe, und blieb bei ihnen, so lang die Hochzeit dauerte, dann fuhr sie wieder zurück in den Wald.

Als die zweite Tochter heiratete und sie wieder zur Hochzeit eingeladen war, sprach sie zum Löwen: „Diesmal will ich nicht allein sein, du musst mitgehen!“ Der Löwe aber sagte, das sei zu gefährlich für ihn, denn wenn dort der Strahl eines brennenden Lichts ihn berührte, so würde er in eine Taube verwandelt und müsse sieben Jahre lang mit den Tauben fliegen. „Ach“, sagte sie, „geh nur mit mir! Ich will dich schon hüten und vor allem Licht bewahren.“ Also zogen sie zusammen und nahmen auch ihr kleines Kind mit.

Sie ließ dort einen Saal mauern, so stark und dick, dass kein Strahl durchdringen konnte, darin sollte er sitzen, wann die Hochzeitslichter angesteckt würden. Die Tür aber war von frischem Holz gemacht, das sprang und bekam einen kleinen Ritz, den kein Mensch bemerkte. Nun ward die Hochzeit mit Pracht gefeiert, als aber der Zug aus der Kirche zurückkam mit den vielen Fackeln und Lichtern an dem Saal vorbei, da fiel ein haarbreiter Strahl auf den Königssohn.

Und als dieser Strahl ihn berührt hatte, in dem Augenblick war er auch verwandelt. Und als sie hineinkam und ihn suchte, sah sie ihn nicht, aber es saß da eine weiße Taube. Die Taube sprach zu ihr: „Sieben Jahr muss ich in die Welt fort fliegen; alle sieben Schritte aber will ich einen roten Blutstropfen und eine weiße Feder fallen lassen, die sollen dir den Weg zeigen, und wenn du der Spur folgst, kannst du mich erlösen.“

Da flog die Taube zur Tür hinaus, und sie folgte ihr nach, und alle sieben Schritte fielen ein rotes Blutströpfchen und ein weißes Federchen herab und zeigten ihr den Weg. So ging sie immerzu in die weite Welt hinein und schaute nicht um sich und ruhte nicht, und fast waren die sieben Jahre herum. Da freute sie sich und meinte, sie wären bald erlöst, und war jedoch noch so weit davon. Einmal, als sie so fort ging, fiel kein Federchen mehr und auch kein rotes Blutströpfchen, und als sie die Augen aufschlug, so war die Taube verschwunden.

Und weil sie dachte: Menschen können dir da nicht helfen, so stieg sie zur Sonne hinauf und sagte zu ihr: „Du scheinst in alle Ritzen und über alle Spitzen, hast du keine weiße Taube fliegen sehen?“ – „Nein“, sagte die Sonne, „ich habe keine gesehen, aber da schenke ich dir ein Kästchen, das mach auf, wenn du in großer Not bist.“ Da dankte sie der Sonne und ging weiter, bis es Abend war und der Mond schien, da fragte sie ihn: „Du scheinst ja die ganze Nacht und durch alle Felder und Wälder, hast du keine weiße Taube fliegen sehen?“ – „Nein“, sagte der Mond, „ich habe keine gesehen, aber da schenk ich dir ein Ei. Das zerbrich, wenn du in großer Not bist.“

Da dankte sie dem Mond und ging weiter, bis der Nachtwind herankam und sie anblies. Da sprach sie zu ihm: „Du wehst ja über alle Bäume und unter allen Blättern weg, hast du keine weiße Taube fliegen sehen“? – „Nein“, sagte der Nachtwind, „ich habe keine gesehen, aber ich will die drei anderen Winde fragen, die haben sie vielleicht gesehen.“ Der Ostwind und der Westwind kamen und hatten nichts gesehen, der Südwind aber sprach: „Die weiße Taube habe ich gesehen, sie ist zum Roten Meer geflogen, da ist sie wieder ein Löwe geworden, denn die sieben Jahre sind herum, und der Löwe steht dort im Kampf mit einem Lindwurm, der Lindwurm ist aber eine verzauberte Königstochter.“

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Da sagte der Nachtwind zu ihr: „Ich will dir Rat geben, geh zum Roten Meer, am rechten Ufer da stehen große Ruten, die zähle, und die elfte schneid ab und schlag den Lindwurm damit, dann kann ihn der Löwe bezwingen, und beide bekommen auch ihren menschlichen Leib wieder. Danach schau dich um, und du wirst den Vogel Greif sehen, der am Roten Meer sitzt, schwing dich mit deinem Liebsten auf seinen Rücken; der Vogel wird euch übers Meer nach Haus tragen. Da hast du auch eine Nuss, wenn du mitten über dem Meere bist, lass sie herabfallen. Alsbald wird sie aufgehen, und ein großer Nussbaum wird aus dem Wasser hervor wachsen, auf dem sich der Greif ausruht. Denn könnte er nicht ruhen, so wäre er nicht stark genug, euch hinüberzutragen. Und wenn du vergisst, die Nuss herab zu werfen, so lässt er euch ins Meer fallen.“

Da ging sie hin und fand alles, wie der Nachtwind gesagt hatte. Sie zahlte die Ruten am Meer und schnitt die elfte ab, damit schlug sie den Lindwurm, und der Löwe bezwang ihn; alsbald hatten beide ihren menschlichen Leib wieder. Aber als die Königstochter, die vorher ein Lindwurm gewesen war, vom Zauber frei war, nahm sie den Jüngling in den Arm, setzte sich auf den Vogel Greif und führte ihn mit sich fort. Da stand die arme Weitgewanderte und war wieder verlassen und setzte sich nieder und weinte. Endlich aber ermutigte sie sich und sprach: „Ich will noch so weit gehen wie der Wind weht und so lange wie der Hahn kräht, bis ich ihn finde.“

Und sie ging lange, lange Wege, bis sie endlich zu dem Schloss kam, wo beide zusammen lebten. Da hörte sie, dass bald ein Fest gefeiert werde, wo sie Hochzeit miteinander machen wollen. Sie sprach aber: „Gott hilft mir noch“ und öffnete das Kästchen, das ihr die Sonne gegeben hatte. Da lag ein Kleid darin, so glänzend wie die Sonne selber. Da nahm sie es heraus und zog es an und ging hinauf in das Schloss und alle Leute und die Braut selber sahen sie mit Verwunderung an. Und das Kleid gefiel der Braut so gut, dass sie daran dachte, es könnte ihr Hochzeitskleid geben, und fragte, ob es nicht feil wäre. „Nicht für Geld und Gut“, antwortete sie, „aber für Fleisch und Blut.“ Die Braut fragte, was sie damit meine.

Da sagte sie: „Lasst mich eine Nacht in der Kammer schlafen, wo der Bräutigam schläft.“ Die Braut wollte nicht und wollte doch gerne das Kleid haben, endlich willigte sie ein, aber der Kammerdiener musste dem Königssohn einen Schlaftrunk geben. Als es nun Nacht war und der Jüngling schon schlief, ward sie in die Kammer geführt. Da setzte sie sich ans Bett und sagte: „Ich bin dir gefolgt sieben Jahre, bin bei Sonne und Mond und bei den vier Winden gewesen und habe nach dir gefragt und habe dir geholfen gegen den Lindwurm; willst du mich denn ganz vergessen?" Der Königssohn aber schlief so tief, dass es ihm nur vorkam, als rausche der Wind draußen in den Tannenbäumen.

Als nun der Morgen anbrach, da ward sie wieder hinausgeführt und musste das goldene Kleid hingeben. Und als auch das nichts geholfen hatte, ward sie traurig, ging hinaus auf eine Wiese, setzte sich da hin und weinte. Und wie sie so dasaß, da fiel ihr das Ei noch ein, das ihr der Mond gegeben hatte. Sie schlug es auf, da kam eine Glucke heraus mit zwölf Küchlein ganz von Gold, die liefen herum und piepten und krochen der Alten wieder unter die Flügel, wie es wohl nicht Schöneres auf der Welt zu sehen gibt. Da stand sie auf, trieb sie auf der Wiese vor sich her, so lange, bis die Braut aus dem Fenster sah.

Und der gefielen die kleinen Küchlein so gut, dass sie gleich herabkam und fragte, ob sie nicht feil wären. „Nicht für Geld und Gut, aber für Fleisch und Blut; lasst mich noch eine Nacht in der Kammer schlafen, wo der Bräutigam schläft!“ Die Braut sagte: „Ja“ und wollte sie betrügen wie am vorigen Abend. Als aber der Königssohn zu Bett ging, fragte er seinen Kammerdiener, was das Murmeln und Rauschen in der Nacht gewesen sei. Da erzählte der Kammerdiener alles, dass er ihm einen Schlaftrunk geben musste, weil ein armes Mädchen heimlich in der Kammer geschlafen habe, und heute Nacht sollte er ihm wieder einen geben! Sagte der Königssohn: „Gieß den Trank neben dem Bett aus.“

Zur Nacht wurde sie wieder hereingeführt und als sie anfing zu erzählen, wie traurig es ihr ergangen sei, da erkannte er gleich an der Stimme seine liebe Gemahlin, sprang auf und rief: „Jetzt bin ich erst recht erlöst, mir ist es wie in einem Traum gewesen, denn die fremde Königstochter hatte mich bezaubert, so dass ich dich vergessen musste. Aber Gott hat noch zu rechter Stunde die Betörung von mir genommen.“ Da gingen sie beide in der Nacht heimlich aus dem Schloss, denn sie fürchteten sich vor dem Vater der Königstochter, der ein Zauberer war, und setzten sich auf den Vogel Greif. Der trug sie über das Rote Meer, und als sie in der Mitte waren, ließ sie die Nuss fallen. Alsbald wuchs ein großer Nussbaum, darauf ruhte sich der Vogel und dann führte er sie nach Haus, wo sie ihr Kind fanden, das war groß und schön geworden, und sie lebten von nun an vergnügt bis an ihr Ende.

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➤ Kategorie: Grimms Märchen
➤ entnommen aus: Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm.Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena 1912.
➤ angepasst an die zeitgemäße deutsche Sprache

Disclaimer

Liebe Leser*innen,

Grimms Märchen gehören zum kulturellen Erbe und deshalb möchten wir sie hier auch so stehen lassen, wie viele Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sie noch aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Dennoch: Für uns von familie.de gibt es nichts Wichtigeres, als eine vielfältige, offene und gleichberechtigte Gesellschaft. Was ihr hier in Grimms Märchen teilweise lest oder vorlest, passt mit unseren Wertvorstellungen oftmals nicht überein.

Die Märchen wurden im frühen 19. Jahrhundert zusammengetragen und waren auch damals nicht primär für Kinder gedacht. Sie sind voll von Brutalität und diskriminierenden Stereotypen. In den Geschichten finden wir nicht nur gruselige Märchengestalten wie Hexen oder Monster, sondern u.a. auch Gewalt an Kindern oder die Bevormundung von Frauen. Das ist nicht nur heute falsch, sondern war es auch damals schon. Zum Glück wachsen unsere Kinder in Zeiten auf, in denen ein Bewusstsein für diese Missstände herrscht.

Ihr kennt eure Kids am besten und daher ist es euch überlassen, ob ihr diese Erzählweise für euren Nachwuchs als angemessen anseht oder nicht; ob ihr Passagen auslasst oder abgeändert vorlest. In jedem Fall: Sprecht mit euren Kindern über das Gelesene und thematisiert das, was gegebenenfalls Angst macht oder Unrecht ist.