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Märchen

Das tapfere Schneiderlein (4-10 Jahre)

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An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab und rief: „Gut Mus feil! Gut Mus feil!“ Das klang dem Schneiderlein lieblich in den Ohren, er steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus und rief: „Hierherauf, liebe Frau, hier werden Sie Ihre Ware los.“ Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korb zu dem Schneider herauf und musste sämtliche Töpfe vor ihm auspacken.

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Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran und sagte endlich: „Das Mus scheint mir gut, wieg Sie mir doch vier Lot ab, liebe Frau, wenn’s auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.“ Die Frau, welche gehofft hatte, einen guten Absatz zu finden, gab ihm, was er verlangte, ging aber ganz ärgerlich und brummig fort. „Nun, das Mus soll mir Gott segnen“, rief das Schneiderlein, „und soll mir Kraft und Stärke geben“, holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück ab und strich das Mus darüber. „Das wird nicht bitter schmecken“, sprach er, „aber erst will ich den Wams fertigmachen, ehe ich abbeiße.“

Er legte das Brot neben sich, nähte weiter und machte vor Freude immer größere Stiche. Indes stieg der Geruch von dem süßen Mus hinauf an die Wand, wo die Fliegen in großer Menge saßen, so dass sie herangelockt wurden und sich scharenweise darauf niederließen. „Ei, wer hat euch eingeladen?“ sprach das Schneiderlein und jagte die ungebetenen Gäste fort. Die Fliegen aber, die kein Deutsch verstanden, ließen sich nicht abweisen, sondern kamen in immer größerer Gesellschaft wieder.

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Da lief dem Schneiderlein endlich, wie man sagt, die Laus über die Leber. Es griff in seiner Wut nach einem Tuchlappen und sprach: „Wart, ich will es euch geben!“ und schlug damit unbarmherzig drauf. Als er es abzog und zählte, so lagen nicht weniger als sieben Fliegen vor ihm tot und streckten die Beine. „Bist du so ein Kerl?“ sprach er und musste seine Tapferkeit bewundern. „Das soll die ganze Stadt erfahren.“ Und in der Hast schnitt sich das Schneiderlein einen Gürtel, nähte ihn und stickte mit großen Buchstaben darauf: „Siebene auf einen Streich!“ – „Ei was, Stadt!“ sprach er weiter, „die ganze Welt soll’s erfahren!“ Und sein Herz wackelte ihm vor Freude wie ein Lämmerschwänzchen.

Der Schneider band sich den Gürtel um den Leib und wollte in die Welt hinaus, weil er meinte, die Werkstätte sei zu klein für seine Tapferkeit. Eh er loszog, suchte er im Haus herum, ob nichts da sei, was er mitnehmen könne. Er fand aber nichts als einen alten Käse, den steckte er ein. Vor dem Tore bemerkte er einen Vogel, der sich im Gesträuch gefangen hatte, der musste zu dem Käse in die Tasche. Nun wanderte er geschwind und tapfer los, und weil er leicht und flink war, fühlte er keine Müdigkeit. Der Weg führte ihn auf einen Berg, und als er den höchsten Gipfel erreicht hatte, so saß da ein gewaltiger Riese und schaute sich ganz gemächlich um.

Das Schneiderlein ging beherzt auf ihn zu, redete ihn an und sprach: „Guten Tag, Kamerad, gell, du sitzest da und besiehst dir die weitläufige Welt? Ich bin eben auf dem Weg dahin und will mich versuchen. Hast du Lust, mitzugehen?“ Der Riese sah den Schneider verächtlich an und sprach: „Du Lump! Du miserabler Kerl!“ – „Das wollen wir doch mal sehen!“ antwortete das Schneiderlein, knöpfte den Rock auf und zeigte dem Riesen den Gürtel. „Da kannst du lesen, was ich für ein Mann bin.“ Der Riese las: „Siebene auf einen Streich“ und meinte, das seien Menschen gewesen, die der Schneider erschlagen habe, und bekam ein wenig Respekt vor dem kleinen Kerl.

Doch wollte er ihn erst prüfen, nahm einen Stein in die Hand und drückte ihn zusammen, dass das Wasser heraustropfte. „Das mach mir nach“, sprach der Riese, „wenn du Stärke hast.“ – „Ist’s weiter nichts?“ sagte das Schneiderlein. „Das ist für unsereins ein Kinderspiel.“ Es griff in die Tasche, holte den weichen Käse und drückte ihn, dass der Saft herauslief. „Gell“, sprach er, „das war ein wenig besser?“ Der Riese wusste nicht, was er sagen sollte, und konnte es dem Männlein nicht glauben. Da hob der Riese einen Stein auf und warf ihn so hoch, dass man ihn kaum noch sehen konnte. „Nun, du Erpelmännchen, das tu mir nach.“ – „Gut geworfen“, sagte der Schneider, „aber der Stein hat doch wieder zur Erde herabfallen müssen.

Ich will dir einen werfen, der soll gar nicht wieder kommen.“ Es griff in die Tasche, nahm den Vogel und warf ihn in die Luft. Der Vogel, froh über seine Freiheit, stieg auf, flog fort und kam nicht wieder. „Wie gefällt dir das Stückchen, Kamerad?“ fragte der Schneider. „Werfen kannst du wohl“, sagte der Riese, „aber nun wollen wir sehen, ob du imstande bist, etwas Ordentliches zu tragen.“ Er führte das Schneiderlein zu einem mächtigen Eichbaum, der da gefällt auf dem Boden lag, und sagte. „Wenn du stark genug bist, so hilf mir den Baum aus dem Wald heraustragen.“ – „Gern“, antwortete der kleine Mann, „nimm du nur den Stamm auf deine Schulter, ich will die Äste mit dem Gezweig aufheben und tragen, das ist doch das schwerste.“

Der Riese nahm den Stamm auf die Schulter, der Schneider aber setzte sich auf einen Ast, und der Riese, der sich nicht umsehen konnte, musste den ganzen Baum und das Schneiderlein noch obendrein tragen. Es war dahinten ganz lustig und guter Dinge, pfiff das Liedchen: „Es ritten drei Schneider zum Tore hinaus“, als sei das Baumtragen ein Kinderspiel. Der Riese, nachdem er ein Stück des Wegs die schwere Last fortgeschleppt hatte, konnte nicht weiter und rief: „Hör, ich muss den Baum fallen lassen.“ Der Schneider sprang geschwind herab, fasste den Baum mit beiden Armen, als wenn er ihn getragen hätte, und sprach zum Riesen: „Du bist ein so großer Kerl und kannst den Baum nicht einmal tragen.“

Sie gingen zusammen weiter, und als sie an einem Kirschbaum vorbeikamen, fasste der Riese die Krone des Baumes, wo die reifsten Früchte hingen, bog sie herab, gab sie dem Schneider in die Hand und forderte ihn auf zu essen. Das Schneiderlein aber war viel zu schwach, um den Baum zu halten, und als der Riese losließ, fuhr der Baum in die Höhe, und der Schneider ward mit in die Luft geschnellt. Als er wieder ohne Schaden herunter gefallen war, sprach der Riese: „Was ist das, hast du nicht die Kraft, die schwache Gerte zu halten?“ – „An der Kraft fehlt es nicht“, antwortete das Schneiderlein, „meinst du, das wäre etwas für einen, der siebene mit einem Streich getroffen hat?

Ich bin über den Baum gesprungen, weil die Jäger da unten in das Gebüsch schießen. Spring’ nach, wenn du’s vermagst.“ Der Riese machte den Versuch, konnte aber nicht über den Baum kommen, sondern blieb in den Ästen hängen, so dass das Schneiderlein auch hier die Oberhand behielt. Der Riese sprach: „Wenn du ein so tapferer Kerl bist, so komm mit in unsere Höhle und übernachte bei uns.“ Das Schneiderlein war bereit und folgte ihm. Als sie in der Höhle anlangten, saßen da noch andere Riesen beim Feuer, und jeder hatte ein gebratenes Schaf in der Hand und aß davon. Das Schneiderlein sah sich um und dachte: „Es ist doch hier viel weitläufiger als in meiner Werkstatt.“

Der Riese wies ihm ein Bett an und sagte, er solle sich hineinlegen und ausschlafen. Dem Schneiderlein war aber das Bett zu groß, es legte sich nicht hinein, sondern kroch in eine Ecke. Als es Mitternacht war und der Riese meinte, das Schneiderlein liege in tiefem Schlafe, so stand er auf, nahm eine große Eisenstange und schlug das Bett mit einem Schlag durch und meinte, er habe dem Grashüpfer den Garaus gemacht. Am frühen Morgen gingen die Riesen in den Wald und hatten das Schneiderlein ganz vergessen, da kam es auf einmal ganz lustig und verwegen daher geschritten. Die Riesen erschraken, fürchteten, es schlage sie alle tot, und liefen in einer Hast fort.

Das Schneiderlein zog weiter, immer seiner spitzen Nase nach. Nachdem es lange gewandert war, kam es in den Hof eines königlichen Palastes, und da es Müdigkeit empfand, so legte es sich ins Gras und schlief ein. Während es da lag, kamen die Leute, betrachteten es von allen Seiten und lasen auf dem Gürtel: „Siebene auf einen Streich.“ – „Ach“, sprachen sie, „was will der große Kriegsheld hier mitten im Frieden? Das muss ein mächtiger Herr sein.“ Sie gingen und meldeten es dem König und meinten, wenn Krieg ausbrechen sollte, sei das ein wichtiger und nützlicher Mann, den man um keinen Preis fortlassen dürfe.

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Dem König gefiel der Rat, und er schickte einen von seinen Hofleuten zum Schneiderlein, der solle ihm, wenn es aufgewacht sei, Kriegsdienste anbieten. Der Abgesandte blieb bei dem Schläfer stehen, wartete, bis er seine Glieder streckte und die Augen aufschlug, und brachte dann seinen Antrag vor. „Eben deshalb bin ich hierher gekommen“, antwortete das Schneiderlein, „ich bin bereit, in des Königs Dienste zu treten.“ Also ward er ehrenvoll empfangen und ihm eine besondere Wohnung angewiesen. Die Kriegsleute aber waren eifersüchtig auf das Schneiderlein und wünschten, es wäre tausend Meilen weit weg. „Was soll daraus werden“, sprachen sie untereinander, „wenn wir Zank mit ihm bekommen und er haut zu, so fallen auf jeden Streich siebene.

Da kann unsereiner nicht bestehen.“ Also fassten sie einen Entschluss, begaben sich allesamt zum König und baten um ihren Abschied. „Wir sind nicht dazu bereit“, sprachen sie, „neben einem Mann auszuhalten, der siebene auf einen Streich schlägt.“ Der König war traurig, dass er wegen des einen alle seine treuen Diener verlieren sollte, und wünschte, dass er ihn nie gesehen hätte und wäre ihn gerne wieder losgeworden. Aber er traute sich nicht, ihm den Abschied zu geben, weil er fürchtete, er würde ihn mit samt seinem Volke totschlagen und sich auf den königlichen Thron setzen. Er sann lange hin und her, endlich fand er einen Rat. Er schickte zu dem Schneiderlein und ließ ihm sagen, weil er ein so großer Kriegsheld wäre, so wollte er ihm ein Angebot machen.

In einem Walde seines Landes hausten zwei Riesen, die mit Rauben, Morden, Sengen und Brennen großen Schaden stifteten, niemand dürfe sich ihnen nahen, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben. Wenn er diese beiden Riesen überwinde und töte, so wolle er ihm seine einzige Tochter zur Gemahlin geben und das halbe Königreich zur Ehesteuer; auch sollen hundert Reiter mitziehen und ihm Beistand leisten. „Das wäre so etwas für einen Mann, wie du bist“, dachte das Schneiderlein, „eine schöne Königstochter und ein halbes Königreich wird einem nicht alle Tage angeboten.“ – „Oh ja“, gab er zur Antwort, „die Riesen will ich schon bändigen und habe die hundert Reiter dabei nicht nötig. Wer siebene auf einen Streich trifft, braucht sich vor zweien nicht zu fürchten.“

Das Schneiderlein zog aus, und die hundert Reiter folgten ihm. Als es zu dem Rand des Waldes kam, sprach es zu seinen Begleitern: „Bleibt hier nur halten, ich will schon allein mit den Riesen fertig werden.“ Dann sprang er in den Wald hinein und schaute sich rechts und links um. Über ein Weilchen erblickte er beide Riesen: Sie lagen unter einem Baume und schliefen und schnarchten dabei, dass sich die Äste auf und nieder bogen. Das Schneiderlein, nicht faul, füllte beide Taschen voll Steine und stieg damit auf den Baum. Als es in der Mitte war, rutschte es auf einen Ast, bis es gerade über die Schläfer zu sitzen kam, und ließ dem einen Riesen einen Stein nach dem anderen auf die Brust fallen. Der Riese spürte lange nichts, doch endlich wachte er auf, stieß seinen Gesellen an und sprach: „Was schlägst du mich?“ – „Du träumst“, sagte der andere, „ich schlage dich nicht.“

Sie legten sich wieder zum Schlafen, da warf der Schneider auf den zweiten einen Stein herab. „Was soll das?“ rief der andere. „Warum bewirfst du mich?“ – „Ich bewerfe dich nicht“, antwortete der erste und brummte. Sie zankten sich eine Weile herum, doch weil sie müde waren, ließen sie’s gut sein, und die Augen fielen ihnen wieder zu. Das Schneiderlein fing sein Spiel von neuem an, suchte den dicksten Stein aus und warf ihn dem ersten Riesen mit aller Gewalt auf die Brust. „Das ist zu arg!“ schrie er, sprang wie ein Unsinniger auf und stieß seinen Gesellen gegen den Baum, dass dieser zitterte. Der andere zahlte mit gleicher Münze, und sie gerieten in solche Wut, dass sie Bäume ausrissen, aufeinander losschlugen.

So lange, bis sie endlich beide zugleich tot auf die Erde fielen. Nun sprang das Schneiderlein herab. „Ein Glück nur“, sprach es, „dass sie den Baum, auf dem ich saß, nicht ausgerissen haben, sonst hätte ich wie ein Eichhörnchen auf einen andern springen müssen. Doch unsereiner ist schnell!“ Es zog sein Schwert und versetzte jedem ein paar tüchtige Hiebe in die Brust, dann ging es hinaus zu den Reitern und sprach: „Die Arbeit ist getan, ich habe beiden den Garaus gemacht. Aber hart ist es hergegangen, sie haben in der Not Bäume ausgerissen und sich gewehrt, doch das hilft alles nichts, wenn einer kommt wie ich, der siebene auf einen Streich schlägt.“ – „Seid Ihr denn nicht verwundet?“ fragten die Reiter. „Ich hatte Glück“, antwortete der Schneider, „kein Haar haben sie mir gekrümmt.“

Die Reiter wollten ihm keinen Glauben schenken und ritten in den Wald hinein: Da fanden sie die Riesen in ihrem Blute schwimmen, und ringsherum lagen die ausgerissenen Bäume. Das Schneiderlein verlangte von dem König die versprochene Belohnung, den aber reute sein Versprechen, und er sann aufs Neue, wie er sich den Helden vom Halse schaffen könne. „Ehe du meine Tochter und das halbe Reich erhältst“, sprach er zu ihm, „musst du noch eine Heldentat vollbringen. In dem Walde läuft ein Einhorn, das großen Schaden anrichtet.

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Das musst du erst einfangen.“ – „Vor einem Einhorne fürchte ich mich noch weniger als vor zwei Riesen; siebene auf einen Streich, das ist meine Sache.“ Er nahm sich einen Strick und eine Axt mit, ging hinaus in den Wald und hieß abermals die, welche ihm zugeordnet waren, außen zu warten. Er brauchte nicht lange zu suchen, das Einhorn kam bald daher und sprang geradezu auf den Schneider los, als wollte es ihn ohne Umstände aufspießen. „Sachte, sachte“, sprach er, „so geschwind geht das nicht“, blieb stehen und wartete, bis das Tier ganz nahe war, dann sprang er flink hinter den Baum.

Das Einhorn rannte mit aller Kraft gegen den Baum und spießte sein Horn so fest in den Stamm, dass es nicht Kraft genug hatte, es wieder herauszuziehen, und so war es gefangen. „Jetzt hab ich das Vöglein“, sagte der Schneider, kam hinter dem Baum hervor, legte dem Einhorn den Strick erst um den Hals, dann hieb er mit der Axt das Horn aus dem Baum, und als alles in Ordnung war, führte er das Tier ab und brachte es dem König. Der König wollte ihm den versprochenen Lohn noch nicht gewähren und machte eine dritte Forderung. Der Schneider sollte ihm vor der Hochzeit erst ein Wildschwein fangen, das in dem Wald großen Schaden anrichte. Die Jäger sollten ihm Beistand leisten. „Gern“, sprach der Schneider, „das ist ein Kinderspiel.“

Die Jäger nahm er nicht mit in den Wald, und sie waren’s wohl zufrieden, denn das Wildschwein hatte sie schon mehrmals so empfangen, dass sie keine Lust mehr hatten, ihm nachzustellen. Als das Schwein den Schneider erblickte, lief es mit schäumendem Munde und wetzenden Zähnen auf ihn zu und wollte ihn auf die Erde werfen. Der flüchtige Held aber sprang in eine Kapelle, die in der Nähe war, und gleich oben zum Fenster mit einem Satze wieder hinaus. Das Schwein war hinter ihm hergelaufen, er aber hüpfte außen herum und schlug die Tür hinter ihm zu. Da war das wütende Tier gefangen, das viel zu schwer und unbeweglich war, um zu dem Fenster hinaus zu springen.

Das Schneiderlein rief die Jäger herbei, die mussten den Gefangenen mit eigenen Augen sehen. Der Held aber begab sich zum Könige, der nun, er mochte wollen oder nicht, sein Versprechen halten musste und ihm seine Tochter und das halbe Königreich übergab. Hätte er gewusst, dass kein Kriegsheld, sondern ein Schneiderlein vor ihm stand, es wäre ihm noch mehr zu Herzen gegangen. Die Hochzeit ward also mit großer Pracht und kleiner Freude gehalten und aus einem Schneider ein König gemacht.

Nach einiger Zeit hörte die junge Königin in der Nacht, wie ihr Gemahl im Traume sprach: „Junge, mach mir den Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen.“ Da merkte sie, in welcher Gasse der junge Herr geboren war, klagte am anderen Morgen ihrem Vater ihr Leid und bat, er möge sie von dem Manne befreien, der nichts anderes als ein Schneider sei. Der König sprach ihr Trost zu und sagte: „Lass in der nächsten Nacht deine Schlafkammer offen, meine Diener sollen außen stehen und, wenn er eingeschlafen ist, hineingehen, ihn binden und auf ein Schiff tragen, das ihn in die weite Welt führt.“

Die Frau war damit einverstanden, des Königs Waffenträger aber, der alles mit angehört hatte, war dem jungen Herrn gewogen und verriet ihm den ganzen Anschlag. „Dem Ding will ich einen Riegel vorschieben“, sagte das Schneiderlein. Abends legte es sich zu gewöhnlicher Zeit mit seiner Frau zu Bett. Als sie glaubte, er sei eingeschlafen, stand sie auf, öffnete die Tür und legte sich wieder. Das Schneiderlein, das sich nur stellte, als wenn es schliefe, fing an mit heller Stimme zu rufen: „Junge, mach mir den Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen!

Ich habe siebene mit einem Streich getroffen, zwei Riesen getötet, ein Einhorn fortgeführt und ein Wildschwein gefangen und sollte mich vor denen fürchten, die draußen vor der Kammer stehen!“ Als diese den Schneider so sprechen hörten, überkam sie eine große Furcht. Sie liefen, als wenn das wilde Heer hinter ihnen wäre, und keiner wollte sich mehr an ihn wagen. Also war und blieb das Schneiderlein sein Lebtag ein König.

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➤ Kategorie: Grimms Märchen
➤ entnommen aus: Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm.Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena 1912.
➤ angepasst an die zeitgemäße deutsche Sprache

Disclaimer

Liebe Leser*innen,

Grimms Märchen gehören zum kulturellen Erbe und deshalb möchten wir sie hier auch so stehen lassen, wie viele Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sie noch aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Dennoch: Für uns von familie.de gibt es nichts Wichtigeres, als eine vielfältige, offene und gleichberechtigte Gesellschaft. Was ihr hier in Grimms Märchen teilweise lest oder vorlest, passt mit unseren Wertvorstellungen oftmals nicht überein.

Die Märchen wurden im frühen 19. Jahrhundert zusammengetragen und waren auch damals nicht primär für Kinder gedacht. Sie sind voll von Brutalität und diskriminierenden Stereotypen. In den Geschichten finden wir nicht nur gruselige Märchengestalten wie Hexen oder Monster, sondern u.a. auch Gewalt an Kindern oder die Bevormundung von Frauen. Das ist nicht nur heute falsch, sondern war es auch damals schon. Zum Glück wachsen unsere Kinder in Zeiten auf, in denen ein Bewusstsein für diese Missstände herrscht.

Ihr kennt eure Kids am besten und daher ist es euch überlassen, ob ihr diese Erzählweise für euren Nachwuchs als angemessen anseht oder nicht; ob ihr Passagen auslasst oder abgeändert vorlest. In jedem Fall: Sprecht mit euren Kindern über das Gelesene und thematisiert das, was gegebenenfalls Angst macht oder Unrecht ist.