Gott der Herr hatte alle Tiere erschaffen und sich die Wölfe zu seinen Hunden auserwählt, bloß die Geiß hatte er vergessen. Da richtete sich der Teufel auf, wollte auch etwas schaffen und schuf die Geiß mit feinen langen Schwänzen. Wenn sie nun zur Weide gingen, blieben sie gewöhnlich mit ihren Schwänzen in den Dornhecken hängen, da musste der Teufel hineingehen und sie mit viel Mühe losknüpfen. Das verdross ihn zuletzt, da ging er her und biss jeder Geiß den Schwanz ab, wie noch heutigen Tags an den Stümpfen zu sehen ist. Nun ließ er sie zwar allein weiden, aber es geschah, dass Gott der Herr zusah, wie sie bald einen fruchtbaren Baum benagten, bald die edlen Reben beschädigten, bald andere zarte Pflanzen verdarben. Das bekümmerte so, dass er aus Güte und Gnade seine Wölfe auf sie hetzte, welche die Geiße, die da gingen, bald zerrissen.
Als der Teufel das vernahm, trat er vor den Herrn und sprach: „Dein Geschöpf hat mir das meine zerrissen.“ Der Herr antwortete: „Was hattest du es auch zum Schaden erschaffen!“ Der Teufel sagte: „Ich musste das: Ebenso wie mein Sinn auf Schaden ausgerichtet ist, konnte das, was ich erschaffen habe, keine andere Natur haben, und musst es mir nun teuer zahlen.“ – „Ich zahl es dir, sobald das Eichenlaub abfällt, dann komm, dein Geld ist schon gezählt.“ Als das Eichenlaub abgefallen war, kam der Teufel und forderte seine Schuld. Der Herr aber sprach: „In der Kirche zu Konstantinopel steht eine hohe Eiche, die hat noch all ihr Laub.“ Mit Toben und Fluchen entwich der Teufel und wollte die Eiche suchen, irrte sechs Monate in der Wüstenei, ehe er sie fand. Und als er wiederkam, waren derweil wieder alle andere Eichen voller grüner Blätter. Da musste er sein Schuld fahren lassen, stach im Zorn allen übrigen Geißen die Augen aus und setzte ihnen seine eigenen ein. Darum haben alle Geißen Teufelsaugen und abgebissene Schwänze, und er nimmt gern ihre Gestalt an.
➤ Kategorie: Grimms Märchen
➤ entnommen aus: Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm.Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena 1912.
➤ angepasst an die zeitgemäße deutsche Sprache
Disclaimer
Liebe Leser*innen,
Grimms Märchen gehören zum kulturellen Erbe und deshalb möchten wir sie hier auch so stehen lassen, wie viele Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sie noch aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Dennoch: Für uns von familie.de gibt es nichts Wichtigeres, als eine vielfältige, offene und gleichberechtigte Gesellschaft. Was ihr hier in Grimms Märchen teilweise lest oder vorlest, passt mit unseren Wertvorstellungen oftmals nicht überein.
Die Märchen wurden im frühen 19. Jahrhundert zusammengetragen und waren auch damals nicht primär für Kinder gedacht. Sie sind voll von Brutalität und diskriminierenden Stereotypen. In den Geschichten finden wir nicht nur gruselige Märchengestalten wie Hexen oder Monster, sondern u.a. auch Gewalt an Kindern oder die Bevormundung von Frauen. Das ist nicht nur heute falsch, sondern war es auch damals schon. Zum Glück wachsen unsere Kinder in Zeiten auf, in denen ein Bewusstsein für diese Missstände herrscht.
Ihr kennt eure Kids am besten und daher ist es euch überlassen, ob ihr diese Erzählweise für euren Nachwuchs als angemessen anseht oder nicht; ob ihr Passagen auslasst oder abgeändert vorlest. In jedem Fall: Sprecht mit euren Kindern über das Gelesene und thematisiert das, was gegebenenfalls Angst macht oder Unrecht ist.