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Fabeln

Der Hund und der Sperling (8-12 Jahre)

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Ein Schäferhund hatte keinen guten Herrn, sondern einen, der ihn Hunger leiden ließ. Als er es nicht länger bei ihm aushalten konnte, ging er ganz traurig fort. Auf der Straße begegnete ihm ein Sperling, der sprach: „Bruder Hund, warum bist du so traurig?“ Antwortete der Hund: „Ich bin hungrig und habe nichts zu fressen.“ Da sprach der Sperling: „Lieber Bruder, komm mit in die Stadt, so will ich dich satt machen.“ Also gingen sie zusammen in die Stadt, und als sie vor einen Fleischerladen kamen, sprach der Sperling zum Hunde: „Da bleib stehen, ich will dir ein Stück Fleisch herunterpicken.“

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Er setzte sich auf den Laden, schaute sich um, ob ihn auch niemand bemerkte, und pickte, zog und zerrte so lang an einem Stück, das am Rande lag, bis es herunterrutschte. Da packte es der Hund, lief in eine Ecke und fraß es auf. Sprach der Sperling: „Nun komm mit zu einem andern Laden, da will ich dir noch ein Stück herunterholen, damit du satt wirst.“ Als der Hund auch das zweite Stück gefressen hatte, fragte der Sperling: „Bruder Hund, bist du nun satt?“ – „Ja, Fleisch bin ich satt,“ antwortete er, „aber ich habe noch kein Brot gekriegt.“ Sprach der Sperling: „Das sollst du auch haben, komm nur mit.“ Da führte er ihn an einen Bäckerladen und pickte an ein paar Brötchen, bis sie herunterrollten, und als der Hund noch mehr wollte, führte er ihn zu einem anderen und holte ihm noch einmal Brot herab. Als das verzehrt war, sprach der Sperling: „Bruder Hund, bist du nun satt?“ Antwortete er: „Nun wollen wir ein bisschen vor die Stadt gehen.“

Da gingen sie beide hinaus auf die Landstraße. Es war aber warmes Wetter, und als sie ein Eckchen gegangen waren, sprach der Hund: „Ich bin müde und möchte gerne schlafen.“ – „Ja, schlaf nur“, antwortete der Sperling, „ich will mich derweil auf einen Zweig setzen.“ Der Hund legte sich also auf die Straße und schlief fest ein. Während er dalag und schlief, kam ein Fuhrmann herangefahren, der hatte einen Wagen mit drei Pferden und hatte zwei Fässer Wein geladen. Der Sperling aber sah, dass er nicht ausbiegen wollte, sondern in dem Fahrgleise blieb, in welchem der Hund lag. Da rief er: „Fuhrmann, tu’s nicht, oder ich mache dich arm!“ Der Fuhrmann aber brummte vor sich hin: „Du wirst mich nicht arm machen,” knallte mit der Peitsche und trieb den Wagen über den Hund, dass ihn die Räder totfuhren.

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Da rief der Sperling: „Du hast mir meinen Bruder Hund totgefahren, das soll dich Karre und Gaul kosten.“ – „Ja, Karre und Gaul“, sagte der Fuhrmann, „was könntest du mir schaden!“ und fuhr weiter. Da kroch der Sperling unter das Wagentuch und pickte an dem einen Spundloch so lange, bis er den Spund los bekam: Da lief der ganze Wein heraus, ohne dass es der Fuhrmann merkte. Und als er einmal hinter sich blickte, sah er, dass der Wagen tröpfelte, untersuchte die Fässer und fand, dass eins leer war. „Ach, ich armer Mann!“ rief er. „Noch nicht arm genug“, sprach der Sperling und flog dem einen Pferd auf den Kopf und pickte ihm die Augen aus. Als der Fuhrmann das sah, zog er seine Hacke heraus und wollte den Sperling treffen, aber der Sperling flog in die Höhe, und der Fuhrmann traf seinen Gaul am Kopf, dass er tot hinfiel. „Ach, ich armer Mann!“ rief er. „Noch nicht arm genug“, sprach der Sperling.

Und als der Fuhrmann mit den zwei Pferden weiterfuhr, kroch der Sperling wieder unter das Tuch und pickte den Spund auch am zweiten Fass los, dass aller Wein heraus lief. Als es der Fuhrmann gewahr wurde, rief er wieder: „Ach, ich armer Mann!“ Aber der Sperling antwortete: „Noch nicht arm genug“, setzte sich dem zweiten Pferd auf den Kopf und pickte ihm die Augen aus. Der Fuhrmann lief herbei und holte mit seiner Hacke aus, aber der Sperling flog in die Höhe, da traf der Schlag das Pferd, dass es hinfiel. „Ach, ich armer Mann!“ – „Noch nicht arm genug“, sprach der Sperling, setzte sich auch dem dritten Pferd auf den Kopf und pickte auch ihm in die Augen. Der Fuhrmann schlug in seinem Zorn, ohne umzusehen, auf den Sperling los, traf ihn aber nicht, sondern schlug auch sein drittes Pferd tot. „Ach, ich armer Mann!“ rief er. „Noch nicht arm genug“, antwortete der Sperling, „jetzt will ich dich daheim arm machen” und flog fort.

Der Fuhrmann musste den Wagen stehen lassen und ging voll Zorn und Ärger heim. „Ach!“ sprach er zu seiner Frau, „was hab ich Unglück gehabt! Der Wein ist ausgelaufen, und die Pferde sind alle drei tot.“ – „Ach, Mann“, antwortete sie, „was für ein böser Vogel ist ins Haus gekommen! Er hat alle Vögel auf der Welt zusammengebracht, und die sind droben über unseren Weizen hergefallen und fressen ihn auf.“ Da stieg er hinauf, und tausend und tausend Vögel saßen auf dem Boden und hatten den Weizen aufgefressen, und der Sperling saß mitten darunter. Da rief der Fuhrmann: „Ach, ich armer Mann!“ – „Noch nicht arm genug“, antwortete der Sperling, „Fuhrmann, es kostet dich noch dein Leben” und flog hinaus.

Da hatte der Fuhrmann all sein Gut verloren, ging hinab in die Stube, setzte sich hinter den Ofen, ganz bös und giftig. Der Sperling aber saß draußen vor dem Fenster und rief: „Fuhrmann, es kostet dich dein Leben!“ Da griff der Fuhrmann die Hacke und warf sie nach dem Sperling, aber er schlug nur die Fensterscheiben entzwei und traf den Vogel nicht. Der Sperling hüpfte nun herein, setzte sich auf den Ofen und rief: „Fuhrmann, es kostet dich dein Leben!“ Dieser, ganz toll und blind vor Wut, schlug den Ofen entzwei und, als der Sperling von einem Ort zum andern flog, sein ganzes Hausgerät: Spieglein, Bänke, Tisch und zuletzt die Wände seines Hauses – und konnte ihn nicht treffen. Endlich aber erwischte er ihn doch mit der Hand. Da sprach seine Frau: „Soll ich ihn totschlagen?“ – „Nein“, rief er, „das wäre zu gelinde, der soll viel mörderischer sterben, ich will ihn verschlingen“ und nahm ihn und verschlang ihn auf einmal.

Der Sperling aber fing an, in seinem Leibe zu flattern, flatterte wieder hinauf in den Mund des Mannes. Da steckte er den Kopf heraus und rief: „Fuhrmann, es kostet dich doch dein Leben!“ Der Fuhrmann reicht seiner Frau die Hacke und spricht: „Frau, schlag mir den Vogel im Munde tot!“ Die Frau schlug zu, schlug aber fehl und schlug dem Fuhrmann gerade auf den Kopf, so dass er tot hinfiel. Der Sperling aber flog auf und davon.

➤ Kategorie: Grimms Märchen
➤ entnommen aus: Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm.Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena 1912.
➤ angepasst an die zeitgemäße deutsche Sprache

Disclaimer

Liebe Leser*innen,

Grimms Märchen gehören zum kulturellen Erbe und deshalb möchten wir sie hier auch so stehen lassen, wie viele Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sie noch aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Dennoch: Für uns von familie.de gibt es nichts Wichtigeres, als eine vielfältige, offene und gleichberechtigte Gesellschaft. Was ihr hier in Grimms Märchen teilweise lest oder vorlest, passt mit unseren Wertvorstellungen oftmals nicht überein.

Die Märchen wurden im frühen 19. Jahrhundert zusammengetragen und waren auch damals nicht primär für Kinder gedacht. Sie sind voll von Brutalität und diskriminierenden Stereotypen. In den Geschichten finden wir nicht nur gruselige Märchengestalten wie Hexen oder Monster, sondern u.a. auch Gewalt an Kindern oder die Bevormundung von Frauen. Das ist nicht nur heute falsch, sondern war es auch damals schon. Zum Glück wachsen unsere Kinder in Zeiten auf, in denen ein Bewusstsein für diese Missstände herrscht.

Ihr kennt eure Kids am besten und daher ist es euch überlassen, ob ihr diese Erzählweise für euren Nachwuchs als angemessen anseht oder nicht; ob ihr Passagen auslasst oder abgeändert vorlest. In jedem Fall: Sprecht mit euren Kindern über das Gelesene und thematisiert das, was gegebenenfalls Angst macht oder Unrecht ist.