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Gute-Nacht-Geschichten

Der wilde Mann

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von Judith Le Huray

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Im Veilchenweg zieht ein neuer Mieter in das Haus Nr. 13. Michi und Tina finden ihn irgendwie unheimlich. Eines Tages beobachten die Kinder ihn heimlich und werden Zeugen eines seltsamen Schauspiels.

Im Veilchenweg stand kürzlich ein LKW vor dem Haus Nummer 13. Vier Wochen davor hatte die alte Frau Graukopf einen Platz im Seniorenheim bekommen und jetzt vermietete sie ihr Häuschen.

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Frau Koch von Nummer 10 schaute aus dem Küchenfenster und vergaß, den Bohneneintopf umzurühren. Herr Saubermann von Nummer 12 hörte auf, den Gehweg zu kehren, und stützte sich auf seinen Besen. Frau Rosenfeld von Nummer 11 schaute beim Unkrautjäten nicht mehr hin, was sie zupfte.

Michi und seine Schwester Tina von Nummer 7 hielten ihre Fahrräder an und schauten den Umzugsleuten zu, wie sie schwere Schränke und Sessel aus dem LKW hievten. Dann kam ein kleiner Mann aus dem Haus Nummer 13, nur einen halben Kopf größer als der neunjährige Michi. Sein schwarzes Haar stand wild in alle Richtungen, seine dunklen Augen wurden von den buschigen Augenbrauen beinahe verdeckt, sein langer Bart war zerzaust und seine Hände steckten tief in den Taschen seiner verwaschenen lila Latzhose.

Die Kinder wichen erschrocken einen Schritt zurück. Frau Koch brannte der Bohneneintopf an. Herrn Saubermann fiel der Besen aus der Hand und Frau Rosenfeld riss versehentlich ihre schönsten Nelken aus.

Michi und Tina gingen nach Hause. Es duftete nach gebratenem Hähnchen. Beim Mittagessen erzählten sie von ihrem merkwürdigen Nachbarn in Nummer 13.

Ihre Mutter sagte nur: „Na, mal sehen!“, und sie schickte die Kinder auf ihr Zimmer, um die Hausaufgaben zu machen. „Wenn ihr sie ordentlich macht, dürft ihr euch nachher ein Eis beim Bäcker holen“, versprach sie.

Beim Bäcker gab es nur ein Thema: den neuen Bewohner vom Veilchenweg 13.

„Der sieht nicht aus, als ob er was arbeiten würde. Hoffentlich kann er der armen Frau Graukopf die Miete bezahlen!“, sagte Herr Knete, der Schalterbeamte der Sparkasse. „Einen Friseur kann er sich offensichtlich nicht leisten“, meinte Frau Krause, die dienstags und donnerstags vormittags im Friseursalon aushalf.

„Mir kommt das Gesicht bekannt vor. Ich muss mir mal unsere Kartei durchsehen!“, sagte Wachtmeister Bullheimer.

Am nächsten Tag erzählten Michi und Tina in der Schule von dem neuen Bewohner in ihrer Straße und auch, was die Leute beim Bäcker erzählt hatten. „Vielleicht ist er ein Bankräuber?“, meinte Michis Freund Jens. „Oder er entführt Kinder und verlangt dann Lösegeld?“, befürchtete Tinas Freundin Lisa, die in der Schule neben ihr saß.

„Wir könnten ihn ja mal beobachten“, schlug Jens vor.

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So machten sich die vier nach der Schule auf den Weg zum Haus Nummer 13. Da sie mittwochs nur bis zur vierten Stunde Unterricht hatten, war noch Zeit bis zum Mittagessen. Die Fahrräder stellten sie im Garten von Tina und Michi ab und schlichen sich zu dem Haus mit dem verdächtigen Bewohner.

Um nicht aufzufallen, kletterten sie an einer versteckten Stelle über den Zaun und suchten Schutz hinter einem Busch. Dann schlichen sie gebückt zu dem kleinen Haus. Sie schauten durch ein Fenster. In dem Raum dahinter standen ein Kleiderschrank, ein Bett und drei große Kartons. Dann spickten sie durchs Küchenfenster.

Außer schmutzigen Kaffeetassen war nicht viel zu entdecken.

Im nächsten Raum sahen sie Regale mit Büchern, einen schweren Esstisch, Stühle, zwei alte Sessel, einige Umzugskartons und einen Käfig mit zwei weißen Mäusen.

Dann öffnete sich plötzlich die Türe und der kleine Mann kam in sein Wohnzimmer. Die Haare standen heute noch wilder ab, er hatte plötzlich einen Buckel, die dunklen Augen rollten, er sprang auf und ab und sprach irgendwas mit schriller Stimme, was die Kinder nicht verstehen konnten.

Schnell duckten sich die vier Freunde und versteckten sich erschrocken hinter dem Busch. Michi gab ein Zeichen. Daraufhin sprangen sie schnell über den Zaun und rannten in den Garten von Tina und Michi, wo sie erst einmal verschnaufen mussten und sich im Gartenhäuschen nochmals erzählten, was sie alles gesehen hatten.

In den nächsten Tagen gab es in dem Stadtviertel kaum ein anderes Gesprächsthema als den kleinen wilden Mann von Nummer 13. Als er beim Bäcker ein Brot kaufte, verstummten alle Gespräche. Der Briefträger legte das Päckchen für den Mann nur vor der Haustüre ab. Die Kinder machten um das Haus einen großen Bogen, schauten allerdings immer neugierig hinüber, ob sie den Mann entdecken konnten. Doch der schlief morgens lange, ging meistens gegen 11 Uhr vormittags aus dem Haus und kam spät nachts zurück.

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Einige Wochen später hatten Michi und Tina etwas anderes im Kopf: Sie würden mit der Schule ins Theater fahren. Am Mittwochnachmittag gab es die Kindervorstellung von „Rumpelstilzchen“. Der Bus stand um 14 Uhr an der Schule bereit, um die Kinder der dritten und vierten Klasse ins Theater zu bringen.

Michi und Tina saßen mit Jens und Lisa in der zweiten Reihe. Der Vorhang öffnete sich und alle schauten gespannt auf die Bühne. Man sah einen Müller mit seiner hübschen Tochter. Der Müller sagte zum König, seine Tochter könne Stroh zu Gold spinnen. Der König sperrte die Müllerstochter in ein Zimmer mit Stroh und sie begann zu weinen, weil sie kein Gold aus Stroh machen konnte. Da öffnete sich die Türe und herein trat - der kleine Mann von Nummer 13! Er spann für die Müllerstochter das Stroh zu Gold.

Als das Männchen später im Kreis tanzte, mit den Augen rollte, auf und ab sprang und mit schriller Stimme sang: „Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß´!“, gab es viel Applaus.

Am lautesten klatschten Tina, Michi, Lisa und Jens und am Ende des Stückes riefen sie laut: „Bravo!“, als das Rumpelstilzchen sich vor dem Publikum verbeugte.

Im Bäckerladen sprach man nun voller Stolz darüber, einen Schauspieler im Viertel zu haben. Herr Knete erzählte, dass der neue Nachbar eventuell das Haus von Frau Graukopf kaufen wolle und die Bank ihn selbstverständlich dabei unterstütze.

Herr Bullheimer sagte: „Ich wusste doch, ich habe ihn schon irgendwo gesehen!“

Michi und Tina winkten Ralf Groß - so hieß er - freundlich zu, wenn sie ihn sahen. Und sie schauten ab und zu mit ihm Fotos von seinen Theatervorstellungen an, tranken Kakao und fütterten seine weißen Mäuse.

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Nach einigen Wochen kam Ralf Groß an einem Dienstagmorgen in den Friseursalon. Er ließ sich den Bart abrasieren und die Haare feuerrot färben. Danach hängte er im Bäckerladen ein Plakat vom Kindertheater auf. „Pumuckel“ hieß das neue Stück.

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