von Maria Schmetz
Mia zieht mit ihrer Mutter in eine neue Wohnung. Als ihre Mutter enkaufen geht, klopft es. Vor der Tür steht eine Hexe...
Seit heute wohnt Mia mit ihrer Mama in der Klappergasse - Klappergasse Nummer 13. Die 13 ist eigentlich keine Glückszahl, findet Mama, aber in dem Fall schon, weil sie jetzt endlich eine Wohnung gefunden hat, eine, die Mama bezahlen kann. Das Haus sieht ziemlich heruntergekommen aus und die Wohnung hat nur zwei Zimmer, aber immerhin.
Mia presst ihren Teddy fest an sich. Das linke Auge fehlt, ein Ohr ist halb abgerissen, das Fell am Bauch abgeschabt. „Ein Fall für die Mülltonne“, hat der Junge, der draußen an der Haustür stand, gesagt und dabei schräg gegrinst.
Blödmann, hat Mia gedacht. Dann hat sie die Lippen zusammengepresst und ist so schnell sie konnte durch die Tür gehuscht.
Berti, ein Fall für die Mülltonne? Bei dem Gedanken schießen Mia Tränen in die Augen. Sie schnieft und schluckt. Dann gibt sie Berti einen feuchten Kuss.
„Du bist mein bester Freund!“, flüstert sie in sein schlappes Ohr und streichelt ihm dabei über den Kopf. Berti ist fast so alt wie Mia und Mia ist vor ein paar Wochen sieben Jahre alt geworden.
Mia schnuppert. Muffig riecht es hier. Kein Wunder, die Wohnung hat ja auch ein halbes Jahr leer gestanden. Die Wände sind kahl und schmuddelig. An der Decke und vor den Fenstern hängen staubige Spinnweben. Die paar Möbel und Pappkisten, die sie mitgebracht haben, stehen verloren in einer Ecke.
Mama ist unterwegs zum Baumarkt, um Tapeten und Farbe zu besorgen. „Das wird ein Weilchen dauern“, hat Mama gesagt. Und Mia weiß, dass ein Weilchen manchmal ziemlich lange dauern kann.
Mia hockt sich mit Berti vor den langen schmalen Spiegel, der an der Wand lehnt. Dünn und blass sieht Mia aus. Ihre großen dunkelgrauen Augen schauen traurig in den Spiegel. Selbst die Sommersprossen, die sonst immer so lustig auf ihrer Nase tanzen, sehen traurig aus.
Papa ist weg. Vor sechs Wochen ausgezogen. In eine andere Stadt. Dass er den ewigen Streit nicht mehr aushalten könne, hat er gesagt. Und dass Mia ihn in den Ferien besuchen dürfe, ganz bestimmt. Dann hat er seine Sachen gepackt und ist gegangen. Seither sind Mama und Mia allein.
Mama hat viel geweint. Sie hat gesagt: „Mia, das schaffen wir schon!“, und sie hat eine neue Wohnung gesucht. Die Wohnung, in der Mia jetzt sitzt und in den Spiegel starrt. Klappergasse 13.
„Na, du?“, sagt Mia leise zu ihrem Spiegelbild und versucht ein zaghaftes Lächeln, aber ihre Mundwinkel wollen nicht so recht nach oben.
Bestimmt eine Hexe
Plötzlich hört Mia Geräusche an der Wohnungstür, so, als ob jemand klopft.
Mia steht auf und geht langsam durch den dunklen Flur. Die Türe steht eine Handbreit auf. Da klopft es wieder, diesmal laut und deutlich. Mia kann durch den Türspalt nur einen Schatten erkennen. Ihr Herz pocht wild. Ob da ein Einbrecher ist?
Ach was! Der würde bestimmt nicht klopfen.
Mia nimmt ihren ganzen Mut zusammen. Sie öffnet die Tür und bleibt verwundert stehen. Vor ihr steht die merkwürdigste Frau, die sie je gesehen hat. Fetzige rote Haare stehen reichlich wirr um ihr faltiges Gesicht. Große grüne Augen mustern sie durch eine ebenso grüne Brille. Da öffnet sich auch schon ihr breiter rot geschminkter Mund.
„Ich bin Frau Maschulke“, sagt die Frau mit dunkler rauer Stimme. „Frau Maschulke von nebenan.“ Mia steht unbeweglich da und starrt die seltsame Frau an. Ob es Hexen gibt, die Maschulke heißen, schießt es Mia durch den Kopf. Bestimmt ist sie eine Hexe. So wirre rote Haare und so grüne Augen hat Mia noch nie gesehen. Und eine Zahnlücke hat sie auch.
„Na? Und wie heißt du?“, fragt die Hexe neugierig. „Ich ich heiße Mia“, stottert Mia. „Na, prima!“, sagt die Hexe. „Dann bin ich ja ab jetzt nicht mehr allein hier im Haus.“ Dabei verzieht sie ihren Mund zu einem schiefen Lachen.
Hilfe, denkt Mia, wir sind in ein Hexenhaus geraten! Wo bleibt bloß die Mama? Die ist doch jetzt schon mehr als ein Weilchen weg. Mia muss schlucken. Als könnte sie Gedanken lesen, fragt die Hexe neugierig: „Ist deine Mama nicht da?“
Mia wird ganz übel. Die Hexe wird ihr immer unheimlicher. „Nein“, sagt Mia schließlich. „Mama ist zum Baumarkt gefahren. Sie muss erst noch Tapeten und Farbe kaufen.“ „Dann komm doch so lange zu mir rüber und trink eine Tasse Kakao bei mir!“, schlägt die Hexe vor. „Dann bist du nicht so allein und wir können uns ein wenig kennen lernen.“
Mia wagt nicht, das Angebot auszuschlagen. Mit Hexen ist nicht zu spaßen, das hat sie gelesen. Die brauchen bloß einen Zauberspruch aufzusagen und schon wird man in eine Maus verwandelt oder in eine Kröte.
Mias Knie zittern. Sie presst Berti ganz fest an ihre Brust und schleicht hinter der Hexe her nach nebenan in die Hexenwohnung. Wenn es da nach Schwefel riecht, wird sie laut schreien und davonlaufen. Das nimmt sie sich fest vor.
Mia wundert sich. Es duftet nach Lavendel und die Wohnung sieht gemütlich aus. Ein bisschen unordentlich, aber gemütlich. Ein rotes Plüschsofa steht da - mit einem altmodischen Tisch davor. An den Wänden hängen Bilder in leuchtenden Farben. Keine Bilder, auf denen man was erkennen kann. Einfach nur Farbe und Kleckse drauf, sonst nichts.
„Moderne Kunst“, sagt die Hexe und dass ihr Mann Maler gewesen sei und die Bilder gemalt habe, als er noch lebte. Eine Hexenwohnung hat Mia sich anders vorgestellt. Und dass Hexen Männer haben, die Bilder malen können, hat Mia auch noch nie gehört. Aber wer weiß? Vielleicht ist Frau Maschulke eine moderne Hexe?
Mia darf auf dem Plüschsofa Platz nehmen. Die Hexe geht in die Küche und brummt ein Lied. Es klappert ein bisschen. Dann kommt die Hexe mit einem dampfenden Topf aus der Küche und gießt Mia Kakao ein.
Ob der vergiftet ist? Riecht wie richtiger Kakao, denkt Mia und probiert vorsichtig. Mmh! So guten Kakao hat Mia noch nie getrunken! Und erst die Kekse, die Frau Maschulke ihr anbietet! Das sind die besten Kekse, die Mia je gegessen hat! Mia legt Berti neben sich auf das Sofa. Der stört ein bisschen beim Essen und Trinken.
„Oh, dein armer Teddy!“, sagt Frau Maschulke und ihre Stimme klingt mit einem Mal ganz weich. „Darf ich mal?“, fragt sie. Als Mia nickt, nimmt sie Berti vorsichtig in die Hand und schaut ihn genau an. Sie befühlt die Stelle, wo das Auge fehlt, das halb abgerissene Ohr und den kahlen Bauch. „Wenn du magst, nähe ich das kaputte Ohr wieder an“, sagt Frau Maschulke schließlich. „Ich kann zwar nicht mehr besonders gut sehen, aber nähen kann ich gut.“ Mia nickt.
Flink machen sich die krummen Finger der alten Frau an die Arbeit. Vor lauter Staunen vergisst Mia, Kakao zu trinken und Kekse zu essen. Und während Frau Maschulke näht, erzählt sie Mia, dass sie früher Schauspielerin war und viele ihrer Kostüme selbst genäht hat.
Mia darf in einem Album alte Fotos anschauen. Fotos, auf denen Frau Maschulke noch jung ist und als feine Dame auf der Bühne steht oder als Zofe, auf einem Bild sogar als Königin. Da ist Frau Maschulke noch jung und so wunderschön wie die Fee in Mias Märchenbuch. Mia ist überwältigt. Fast schämt sie sich ein bisschen, dass sie Frau Maschulke für eine Hexe gehalten hat.
„Fertig!“, sagt Frau Maschulke und betrachtet Berti zufrieden durch die grüne Brille. Mit zwei Augen und zwei strammen Ohren sieht der kleine Kerl wieder richtig fröhlich aus. „Oh, vielen Dank!“, ruft Mia. Dabei hüpfen die Sommersprossen lustig auf ihrer Nase. Mia nimmt Berti in Empfang und drückt ihn an sich.
„Vielleicht finde ich noch ein hübsches Stück Stoff?“, meint Frau Maschulke. „Dann kriegt dein Teddy ein Hemd und eine Hose, damit sein nackter Bauch nicht friert.“
Mia sitzt da, strahlt Frau Maschulke an und weiß gar nicht, was sie sagen soll. Unten wird die Haustüre aufgeschlossen.
„Das wird deine Mama sein“, sagt Frau Maschulke. Schade, denkt Mia.
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