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Die vier kunstreichen Brüder (6-10 Jahre)

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Es war einmal ein armer Mann, der hatte vier Söhne. Und als die herangewachsen waren, sprach er zu ihnen: „Liebe Kinder, ihr müsst jetzt hinaus in die Welt, ich habe nichts, was ich euch geben könnte; macht euch auf und geht in die Fremde, lernt ein Handwerk und seht, wie ihr euch durchschlagt.“ Da ergriffen die vier Brüder den Wanderstab, nahmen Abschied von ihrem Vater und zogen zusammen zum Tor hinaus. Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen Kreuzweg, der in vier verschiedene Richtungen führte. Da sprach der ÄIteste: „Hier müssen wir uns trennen, aber heute nach vier Jahren wollen wir an dieser Stelle wieder zusammentreffen und in der Zeit unser Glück versuchen.“

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Nun ging jeder seinen Weg, und dem ÄItesten begegnete ein Mann, der fragte ihn, wohin er wolle und was er vorhabe. „Ich will ein Handwerk lernen“, antwortete er. Da sprach der Mann: „Geh mit mir und werde ein Dieb.“ – „Nein,' antwortete er, „das gilt für kein ehrliches Handwerk, und das Ende vom Lied ist, dass einer als Schwengel in der Feldglocke gebraucht wird.“ – „Oh“, sprach der Mann, „vor dem Galgen brauchst du dich nicht zu fürchten. Ich will dich bloß lehren, wie du holst, was sonst kein Mensch kriegen kann, und wie dir niemand auf die Spur kommt.“ Da ließ er sich überreden, ward bei dem Manne ein gelernter Dieb und ward so geschickt, dass vor ihm nichts sicher war, was er einmal haben wollte.

Der zweite Bruder begegnete einem Mann, der dieselbe Frage an ihn richtete, was er in der Welt lernen wolle. „Ich weiß es noch nicht“, antwortete er. „So geh mit mir und werde ein Sterngucker: nichts ist besser als das, es bleibt einem nichts verborgen.“ Er ließ sich das gefallen und ward ein so geschickter Sterngucker, dass sein Meister, als er ausgelernt hatte und weiterziehen wollte, ihm ein Fernrohr gab und zu ihm sprach: „Damit kannst du sehen, was auf Erden und am Himmel vorgeht, und nichts kann dir verborgen bleiben.“ Den dritten Bruder nahm ein Jäger in die Lehre und gab ihm in allem, was zur Jägerei gehört, so guten Unterricht, dass er ein ausgelernter Jäger ward. Der Meister schenkte ihm beim Abschied eine Büchse und sprach: „Die fehlt nicht.

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Was du damit aufs Korn nimmst, das triffst du sicher.“ Der jüngste Bruder begegnete gleichfalls einem Manne, der ihn anredete und nach seinem Vorhaben fragte. „Hast du nicht Lust, ein Schneider zu werden?“ – „Dass ich nicht das wüsste“, sprach der Junge. „Das Krummsitzen von morgens bis abends, das Hin- und Herfegen mit der Nadel und das Bügeleisen will mir nicht in den Sinn.“ – „Ei was“, antwortete der Mann, „du sprichst über etwas, was du nicht verstehst. Bei mir lernst du eine ganz andere Schneiderkunst, die ist anständig und ziemlich, zum Teil sehr ehrenvoll.“ Da ließ er sich überreden, ging mit und lernte die Kunst des Mannes von Grund auf. Beim Abschied gab ihm dieser eine Nadel und sprach: „Damit kannst du zusammennähen, was dir willst, sei so weich wie ein Ei oder so hart wie Stahl. Und es wird ganz zu einem Stück, so dass keine Naht mehr zu sehen ist.“

Als die bestimmten vier Jahre herum waren, kamen die vier Brüder zu gleicher Zeit an dem Kreuzwege zusammen, herzten und küssten sich und kehrten heim zu ihrem Vater. „Nun“, sprach dieser ganz vergnügt, „hat euch der Wind wieder zu mir geweht?“ Sie erzählten, wie es ihnen ergangen war, und dass jeder das Seinige gelernt habe. Nun saßen sie gerade vor dem Haus unter einem großen Baum, da sprach der Vater: Jetzt will ich euch auf die Probe stellen und sehen, was ihr könnt.“ Danach schaute er auf und sagte zu dem zweiten Sohne: „Oben im Gipfel dieses Baumes sitzt zwischen zwei Ästen ein Buchfinkennest, sag mir, wie viel Eier liegen darin?“ Der Sterngucker nahm sein Glas, schaute hinauf und sagte: „Fünfe sind’s.“ Sprach der Vater zum ÄItesten: „Hol du die Eier herunter, ohne dass der Vogel, der darauf sitzt und brütet, gestört wird.“

Der kunstreiche Dieb stieg hinauf und nahm dem Vöglein, das gar nichts davon merkte und ruhig sitzen blieb, die fünf Eier unter dem Leib weg und brachte sie dem Vater herab. Der Vater nahm sie, legte an jede Ecke des Tisches eins und das fünfte in die Mitte, und sprach zum Jäger: „Du schießst mir mit einem Schuss die fünf Eier in der Mitte entzwei.“ Der Jäger legte seine Büchse an und schoss die Eier entzwei, wie es der Vater verlangt hatte, alle fünfe, und zwar in einem Schuss. Der Jäger hatte gewiss von dem Pulver, das um die Ecke schießt. „Nun kommt die Reihe an dich“, sprach der Vater zu dem vierten Sohn, „Du nähst die Eier wieder zusammen und auch die jungen Vöglein, die darin sind, und zwar so, dass ihnen der Schuss nichts schadet.“

Der Schneider holte seine Nadel und nähte, wie es der Vater verlangt hatte. Als er fertig war, musste der Dieb die Eier wieder auf den Baum ins Nest tragen und sie dem Vogel, ohne dass er etwas merkte, wieder unterlegen. Das Tierchen brütete sie vollends aus, und nach ein paar Tagen krochen die Jungen hervor und hatten da, wo sie vom Schneider zusammengenäht waren, ein rotes Streifchen um den Hals.

„Ja“, sprach der Alte zu seinen Söhnen, „ich muss euch über den grünen Klee loben, ihr habt eure Zeit wohl genutzt und was Rechtschaffenes gelernt: ich kann nicht sagen, wem von euch der Vorzug gebührt. Wenn ihr nur bald Gelegenheit habt, eure Kunst anzuwenden, da wird es sich zeigen.“ Nicht lange danach kam großer Lärm ins Land, die Königstochter sei von einem Drachen entführt worden.

Der König war Tag und Nacht darüber in Sorge und ließ bekanntmachen, wer sie zurückbrächte, sollte sie zur Gemahlin haben. Die vier Brüder sprachen untereinander: „Das wäre eine Gelegenheit, bei der wir uns sehen lassen könnten.“ Sie wollten zusammen ausziehen und die Königstochter befreien. „Wo sie ist, werde ich bald wissen“, sprach der Sterngucker, schaute durch sein Fernrohr und sprach: „Ich sehe sie schon, sie sitzt weit von hier auf einem Felsen im Meer, und neben ihr der Drache, der sie bewacht.“ Da ging er zu dem König und bat um ein Schiff für sich und seine Brüder und fuhr mit ihnen über das Meer, bis sie zu dem Felsen hinkamen. Die Königstochter saß da, aber der Drache lag in ihrem Schoß und schlief.

Der Jäger sprach: „Ich darf nicht schießen, ich würde die schöne Jungfrau zugleich töten.“ – „So will ich mein Heil versuchen“, sagte der Dieb, schlich sich heran und stahl sie unter dem Drachen weg. Aber so leise und flink, dass das Untier nichts merkte, sondern weiter schnarchte. Sie eilten voll Freude mit ihr aufs Schiff und steuerten in die offene See. Aber der Drache, der bei seinem Erwachen die Königstochter nicht mehr gefunden hatte, flog hinter ihnen her und schnaubte wütend durch die Luft. Als er gerade über dem Schiff schwebte und sich herablassen wollte, legte der Jäger seine Büchse an und schoss ihn mitten ins Herz. Das Untier fiel tot herab, war aber so groß und gewaltig, dass es im Herabfallen das ganze Schiff zertrümmerte. Sie erhaschten glücklich noch ein paar Bretter und schwammen auf dem weiten Meer umher.

Da war wieder große Not, aber der Schneider, nicht faul, nahm seine wunderbare Nadel, nähte die Bretter mit ein paar großen Stichen in der Eile zusammen, setzte sich darauf und sammelte alle Stücke des Schiffs. Dann nähte er auch diese so geschickt zusammen, dass in kurzer Zeit das Schiff wieder segelfertig war und sie glücklich heimfahren konnten. Als der König seine Tochter wieder erblickte, war die Freude groß. Er sprach zu den vier Brüdern: „Einer von euch soll sie zur Gemahlin haben, aber welcher das ist, macht unter euch aus.“ Da entstand ein heftiger Streit unter ihnen, denn jeder machte Ansprüche. Der Sterngucker sprach: „Hätte ich die Königstochter nicht gesehen, so wären alle eure Künste umsonst gewesen: Darum ist sie mein.“

Der Dieb sprach: „Was hätte das Sehen geholfen, wenn ich sie nicht unter dem Drachen weg geholt hätte: Darum ist sie mein.“ – „Der Jäger sprach: „Ihr wäret doch samt der Königstochter von dem Untier zerrissen worden, hätte es meine Kugel nicht getroffen: Darum ist sie mein.“ Der Schneider sprach: „Und hätte ich euch mit meiner Kunst nicht das Schiff wieder zusammengeflickt, ihr wärt alle jämmerlich ertrunken: Darum ist sie mein.“ Da fällte der König eine Entscheidung: Jeder von euch hat ein gleiches Recht, und weil nicht jeder von euch die Jungfrau haben kann, so soll sie keiner von euch haben, aber ich will jedem zur Belohnung ein halbes Königreich geben.“ Den Brüdern gefiel diese Entscheidung und sie sprachen: „Es ist besser so, als dass wir uneins werden.“ Da erhielt jeder ein halbes Königreich, und sie lebten mit ihrem Vater in aller Glückseligkeit, solange es Gott gefiel.

➤ Kategorie: Grimms Märchen
➤ entnommen aus: Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm.Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena 1912.
➤ angepasst an die zeitgemäße deutsche Sprache