"Ich soll jetzt was?" Erschrocken guckt Paula ihre Mama an. "Die Sachen von eurer Strandparty reinholen!", antwortet Mama. "Wie versprochen. Vor allem die Musikanlage und mein Picknickgeschirr hätte ich gerne wieder, ehe es heute Nacht vielleicht regnet."
Heute hat Paula mit einigen Freundinnen im Garten eine Strandparty veranstaltet. Natürlich keine echte Strandparty. Denn erstens wohnen sie leider Hunderte Kilometer vom nächsten Strand entfernt, und zweitens gibt es in ihrem Garten nicht einmal einen kleinen Tümpel, den man mit Fantasie wenigstens zur Nordsee umfunktionieren könnte. Dafür aber steht ein neuer aufblasbarer Pool auf dem Rasen. Der ist nicht nur ganz schön groß, sondern das Wasser darin sieht auch so herrlich blau aus wie in der Südsee. Erst recht, nachdem Papa schubkarrenweise schönen gelben Sand davor verteilt hat.
Bei Musik, Wasserbomben-Luftballons und leckerem Picknick haben sich alle prächtig amüsiert. Alle, bis auf ihren blöden Bruder Sebastian. Der hat ihnen heimlich eklig-schleimige Nacktschnecken auf die Handtücher gelegt und ist dafür dann mit Klamotten im Pool gelandet. Alles wäre also prima, hätte Paula am Ende nicht vergessen, die Sachen reinzuholen. Und jetzt ist es schon fast dunkel. Was genau das Problem ist. Denn bei dem Gedanken, gleich alleine in den großen dunklen Garten zu müssen, kriegt sie eine Gänsehaut.
"Muss ich wirklich?", fragt Paula. Sie riskiert einen schnellen Blick auf die geschlossene Terrassentür, durch die das Wohnzimmerlicht in den Garten scheint. Allerdings nur ein paar Meter weit, bevor dahinter alles in trostloser Dunkelheit versinkt. "Keine Bange!", sagt Mama. "Ich schalte die Gartenbeleuchtung ein." Sie drückt auf einen Schalter, und im nächsten Moment wird ein Großteil des Gartens wie von Zauberhand in helles Licht getaucht.
Erleichtert stellt Paula fest, dass der Pool, die Musikanlage und die Picknicksachen noch im Lichtschein liegen. Trotzdem holt sie sich lieber Papas Taschenlampe. Schließlich kann man nie wissen, was außerhalb des Lichts so alles auf der Lauer liegt. Mit Taschenlampe und einer Plastikkiste bewaffnet, macht sich Paula an die Arbeit. Im Weltrekordtempo flitzt sie zunächst über den Rasen zum Pool, lässt die Kiste fallen und beginnt in Windeseile, alle Teller, Becher, Messer und Gabeln einzusammeln, die ihr unter die Finger kommen. Das ist in nicht einmal drei Minuten geschafft, auch wenn es Paula wie eine Stunde vorkommt. Jetzt noch die Musikanlage. Doch die steht auf einem Gartentisch, der zur Hälfte im Dunkeln liegt.
Vorsichtshalber beschließt Paula, das Ganze erst einmal mit der Taschenlampe auszuleuchten. Aber das ist leichter gesagt als getan. Denn auf einmal ist die Taschenlampe nicht mehr zu finden. Dabei hätte sie schwören können, dass sie sie eben erst in die Kiste gelegt hat, bevor sie … "Mann, bin ich blöd", murmelt Paula, als es ihr wieder einfällt. Sie hat das ganze Geschirr ja einfach auf die Taschenlampe gepfeffert. Der Gedanke, die Lampe unter dem schmutzig-schmierigen Geschirr hervorzukramen, ist nicht sehr verlockend. Daher nimmt Paula ihren ganzen Mut zusammen, saust zum Tischchen hinüber, reißt die Anlage samt Tischdecke an sich und rennt zurück. Geschafft, denkt sie erleichtert, als sie die Anlage vorsichtig in die Kiste stellt.
Zufrieden nimmt Paula die Kiste hoch. Aber gerade als sie sich umdreht, erlischt das Licht im Garten. Starr vor Schreck bleibt Paula mit der Kiste in den Händen stehen. Tiefe, undurchdringliche Schwärze umhüllt sie. Einen Moment lang steht sie einfach nur da. Dann merkt Paula, dass die Dunkelheit gar nicht mehr so ganz dunkel ist. Denn langsam sind immer mehr Sachen zu erkennen. Der Pool, zum Beispiel, Büsche und Bäume und der Zaun zum Nachbargrundstück. Ihre Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Das macht Paula etwas Mut. Vorsichtig dreht sie sich um und will zum Haus zurückgehen. Doch nach zwei Schritten erstarrt sie erneut. Diesmal allerdings nicht vor Schreck, sondern vor Wut. Weiter vorne steht ihr Bruder im hell erleuchteten Wohnzimmer an der Terrassentür und grinst sie dämlich an.
Für Paula ist der Fall klar. Aus Rache für die Pool-Aktion hat Sebastian das Licht ausgeschaltet. Paula ist so wütend, dass sie ganz vergisst, sich zu fürchten. Na warte, denkt sie. Da raschelt es plötzlich im Gebüsch zum Nachbargrundstück. Nur wenige Meter von ihr entfernt! Erschrocken reißt Paula die Augen auf und versucht, etwas zu erkennen. Aber es ist nichts zu sehen. Dafür aber zu hören. Ein leises Plätschern setzt ein, so als würde Regen auf Erde prasseln. Auf einmal blitzt ein Lichtkegel hinter dem Gebüsch auf. Kein Zweifel: Da treibt sich jemand mit einer Taschenlampe im Nachbargarten herum. Ein Einbrecher!, denkt Paula und lässt vor Schreck die Kiste fallen. Mit einem lauten Scheppern kracht sie auf den Boden.
"Wer ist da?", hört sie gleich darauf eine Stimme. Die Stimme kennt sie. Es ist ihr Nachbar, Herr Müller. "Ich bin's", ruft Paula erleichtert. Im nächsten Augenblick taucht Herr Müller auch schon hinter dem Gebüsch auf. Mit einer Taschenlampe in der einen und einer Gießkanne in der anderen Hand steht er am Gartenzaun und schaut zu ihr herüber. "Mensch, hast du mich erschreckt", sagt er. "Ich wollte gerade Regenwürmer sammeln." "Regenwürmer?", fragt Paula verblüfft. "Im Dunkeln? Mit der Gießkanne?" "Ja, die Regenwürmer brauche ich als Köder zum Angeln", erklärt Herr Müller. "Und weil Regenwürmer keine Helligkeit mögen, sammelt man sie am besten nachts. Hier in meinem Komposthaufen gibt's ganz viele davon. Wenn ich den mit Wasser begieße, denken die Regenwürmer, es regnet, und kommen von selbst raus."
"Ach so, logisch. Regenwürmer lieben ja Regen", sagt Paula. "Na ja, eigentlich kommen sie raus, weil sie Regen hassen", erwidert Herr Müller. Er lacht. "Jedenfalls starken Regen. Dann können nämlich ihre unterirdischen Wohnröhren mit Wasser volllaufen, und sie ertrinken. Deshalb kommen sie an die Oberfläche. Aber sag mal, was machst du eigentlich so spät noch hier im Garten?" Paula erzählt von ihrer Strandparty und dass ihr blöder Bruder das Gartenlicht ausgeschaltet hat. Netterweise bietet Herr Müller an, ihr mit der Taschenlampe den Weg zu leuchten. So macht sich Paula ohne Angst auf den Rückweg. Das mit dem Regen und den Regenwürmern ist echt superinteressant, findet sie. Nicht nur, weil Regenwürmer eigentlich keinen Regen mögen, sondern weil der Gießkannentrick sie auf eine Idee gebracht hat. Mal sehen, was Sebastian von Regenwürmern im Zahnputzbecher hält, denkt Paula und kehrt zufrieden grinsend ins Haus zurück ...
➤ Kategorie: Gute-Nacht-Geschichten
➤ Text von Christian Dreller aus dem Buch "Haben Elefanten wirklich Angst vor Mäusen?", www.ellermann.de
➤ Hier können Sie die Geschichte kostenlos downloaden: Regenwürmer lieben Regen