„Ich hol mal ein paar Nägel und einen Hammer! Das Brett über der Kombüse wackelt“, rief Leo und sprang vom Piratenschiff runter. Finn und Max nickten. Sie schmirgelten gerade die Reling glatt. Leo, Finn und Max waren die Wilden Seegurken, eine echte Piratenbande!
In den Sommerferien hatten sie angefangen, ein Piratenschiff zu bauen. Auf dem Abenteuerspielplatz. Seitdem trafen sie sich jeden Nachmittag, um daran weiterzubauen. „Ihr glaubt nicht, wer gerade eingetrudelt ist“, sagte Leo. Mit den Nägeln und einem Gummihammer in der Hand kletterte er zurück aufs Schiff. „Oh nein! Sag bloß, die Seesterne sind da“, stöhnte Finn. „Ich dachte, wir haben noch ein wenig Ruhe vor diesen Mädchen.“ Er stand auf, zog sich sein Piratentuch vom Kopf und hielt es sich wie einen Schleier vor den Mund. Dann stolzierte er an Deck auf und ab, als trüge er Stöckelschuhe. Mit verstellter hoher Stimme sagte er: „Tütelitü, hast du heute schon die Seepferdchen gefüttert? Ach nein, die sind heute ja beim Wasserballett. Na, dann hol ich mal ein wenig rosa Glitzerfarbe und streiche unser Schiff …“Dann schickte er noch einen Luftkuss zu Max und Leo. „Du machst die Mädchen echt super nach, Finn. Genau so redet dieser blond gelockte Oberseestern Lilli. Ich lach mich schlapp!“, sagte Max und klopfte Finn auf die Schulter. Dann guckten sie grimmig in Richtung Reifenschaukeln. Dort stand auch ein Schiff. Es war ungefähr genauso groß wie das der Wilden Seegurken. Aber es sah ganz anders aus: Das Segel leuchtete in Sonnengelb, und zwischen den Masten hatten die Mädchen Wimpel und Lampions aufgehängt. Mit bunten Farben stand der Name des Schiffs am Heck – SEESTERN. Da kamen auch schon die Seesterne laut kichernd um die Ecke. Marie, Anja und Frida. „He, ihr Gurken!“, rief Frida den Jungen zu. „Heute schon Beute gemacht?“ „Geht euch gar nichts an. Aber bestimmt mehr als ihr!“, rief Leo zurück. „Denn ihr werdet nie, nie, niemals richtige Piraten werden. Ihr seid nämlich Mädchen. Und jetzt lasst uns in Ruhe!“ Marie winkte nur lächelnd ab und kletterte auf die Seestern. Frida und Anja kletterten hinterher. „Die sind echt so bescheuert“, knurrte Max und schmirgelte wütend weiter. „Zum Glück ist Lilli heute nicht dabei. Sie ist die Schlimmste!“ Plötzlich klopfte es an den Bug. Finn, Leo und Max guckten neugierig über die Reling nach unten. Da stand ein Junge. Er hatte ein Piratentuch um den Kopf gebunden, und darunter schauten strubbelige kurze Haare hervor. „Euer Schiff ist richtig cool! Habt ihr das selbst gebaut?“, fragte er. „Logisch! Das ist doch Piraten-Ehrensache“, antwortete Max stolz. „Wie heißt du? Ich hab dich hier noch nie gesehen“, fragte er. „Ich bin Basti. Ich wohne noch nicht so lange hier. Darf ich bei euch mitmachen?“ „Ja … aber du musst erst beweisen, dass du tapfer und mutig bist. Dann kannst du eine Wilde Seegurke werden. Jetzt komm doch erst mal rauf!“ Basti schwang sich geschickt an Deck. Die drei Jungen klatschten ihn nacheinander ab. Finn deutete auf die Seestern und die Mädchen. „Du siehst, wir haben Feinde. Sie sind nicht gefährlich, aber nervig“, sagte er. „Verstehe“, sagte Basti.
Leo holte einen Säbel aus Plastik aus der Kombüse. Er stellte sich vor Basti und sagte feierlich: „Drei Aufgaben sollst du erfüllen, um eine Wilde Seegurke zu werden, Basti. Dies ist die erste. Mit diesem Säbel zwischen den Zähnen balanciere auf der Reling! Und zwar einmal ganz um das Schiff herum. Wagst du es?“ Basti nickte entschlossen, den Säbel schon zwischen den Zähnen. Finn half ihm hinauf. Basti streckte die Arme zur Seite. Er schwankte ein wenig hin und her, doch dann fand er das Gleichgewicht. Schritt für Schritt ging er die ganze Reling entlang, bis er bei den drei Jungen zurück an Deck sprang. „He, super, das hättest du sogar mit Holzbein geschafft!“, sagte Max bewundernd. Finn jedoch stellte schon die zweite Aufgabe. „Piraten haben ein hartes Leben. Wir sind oft wochenlang auf See. Das Essen besteht dann nur noch aus Schiffszwieback – belegt mit Maden! Iss also dieses harte Stück Brot und lecke einmal an diesem fetten Regenwurm.“ Leo hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Max starrte wie gebannt auf den sich windenden Wurm zwischen Finns Fingern. Doch Basti sagte nur: „Geht klar!“ Mutig nahm er Finn den Wurm aus der Hand, ließ ihn über seinem offenen Mund baumeln und … leckte ihn ab. Dann nahm er das harte Brotstück, biss hinein und kaute und kaute, bis nichts mehr übrig war. Leo hatte seine Hand mittlerweile nicht mehr vor seinem Mund, sondern vor seinen Augen. Ab und an blinzelte er hindurch, um zu sehen, ob die Sache mit dem Wurm schon überstanden war. Max starrte immer noch geradeaus. Nur Finn beeindruckte das nicht. „Nun gut, die zweite Aufgabe hast du auch erfüllt. Schaffst du auch noch die dritte, dann bist du einer von uns – eine echte Wilde Seegurke!“, sagte er. Basti nickte. „Du musst dich eine Minute vom höchsten Mast herunterhängen lassen. Allerdings mit dem Kopf nach unten!“, erklärte Finn. „Aye, aye, Kapitän der Wilden Seegurken“, antwortete Basti. Sofort begann er, den Mast hochzuklettern. Oben angekommen, setzte er sich auf den Querbalken, klemmte die Füße in das Tauwerk und ließ sich langsam nach unten. „60, 59, 58, 57 …“, begann Finn zu zählen.
Doch da geschah etwas Unglaubliches. Etwas Ungeheuerliches: Bastis Piratenkopftuch rutschte. Aber nicht nur das Tuch. Auch Bastis Haare rutschten und fielen schließlich zusammen mit dem Tuch herunter. Statt der kurzen braunen Haare hatte Basti nun lange blonde Locken … Leo kapierte als Erster. „Das ist überhaupt kein Junge! Das ist Lilli! He, Betrug! Wir sind betrogen worden!“, brüllte er. „Komm sofort von unserem Mast herunter!“, schrie Finn. Max starrte auf Lilli, die langsam das Tauwerk herunterkletterte. „Warum hast du das gemacht?“, fragte Max Lilli ein wenig hilflos, als sie neben ihm aufs Deck sprang. „Wir Seesterne wollten euch nur beweisen, dass wir genauso cool sind wie ihr. Und uns ging dieser alberne Streit wirklich auf den Keks. Also: Wir wollen uns gerne mit euch vertragen“, sagte Lilli und guckte den Wilden Seegurken nacheinander lange in die Augen. „Und da ich ja jetzt fast selbst eine Wilde Gurke bin, da dachte ich …“ „Falsch gedacht. Kommt mit, Wilde Seegurken. Das müssen wir uns nicht bieten lassen“, fauchte Finn und stampfte wütend in die Kajüte. Leo folgte ihm achselzuckend. Nur Max rührte sich nicht vom Fleck. Nach einer ganzen Weile sagte er: „Du warst sehr mutig und geschickt. Das hätte ich einem … na ja … du weißt schon … niemals zugetraut.“ „Einem Mädchen, meinst du?“ Lilli lächelte. „Und weißt du, was ich dir nie zugetraut hätte, Max?“ „Nee, was denn?“ „Dass du bleibst und nicht einfach Finn hinterherläufst. Kommst du mit rüber auf die Seestern? Wir wollen Kartoffeln im Lagerfeuer backen.“ „Ja, cool … äh … ich meine, ich kann es mir bei euch ja mal ansehen.“
Lilli und Max gingen hinüber zur Seestern. Dort saßen die restlichen Seesterne schon am Feuer und sangen: „13 Frau’n auf des toten Manns Kiste … He ho, he ho, und ’ne Buddel voll Limo!“ „Das ist lustig“, sagte Max und setzte sich dazu. Als Max nach einer Weile seine erste Kartoffel aus dem Feuer zog, kamen auch Leo und Finn. Schüchtern setzten sie sich ans Lagerfeuer und stocherten mit einem Ast in der Glut herum. „Schön, dass ihr da seid“, sagte Lilli schließlich. „Mm“, brummte Finn. „Ihr habt doch mehr Piratenmumm in den Knochen, als ich dachte. Das muss ich zugeben. Und ich meine, fähige Piraten sollten sich zusammentun. Zumindest von Zeit zu Zeit!“ „Darauf stechen wir ein Fass Limo an!“, jauchzte Lilli. Dann lachte sie laut und lange, bis sie hintenüberkippte. Und alle Seesterne und alle Wilden Seegurken lachten laut mit.
➤ Kategorie: Gute-Nacht-Geschichten
➤ Text Ann-Katrin Heger/Illustrationen Anna Marshall aus dem Buch "Wilde Vorlesegeschichten. Piraten, Ritter, Räuber", ellermann im Dressler Verlag
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