Der kleine König sieht auf seine Wanduhr. »Hm, mal überlegen. Der kleine Zeiger ist oben. Der große auch. Also ist jetzt zwölf Uhr. Mittag! «, ruft er und will in die Küche laufen. Aber dann bleibt er plötzlich wie angewurzelt stehen. »Moment mal«, murmelt der kleine König und geht wieder zurück. Er wirft noch einmal einen Blick auf die Uhr, schaut aus dem Fenster – und wundert sich. Es wird nämlich schon dunkel. »Da stimmt doch was nicht. Mittags ist es nie dunkel. Höchstens bei Gewitter. Aber heute ist ein schöner Tag.« Der kleine König beugt sich weit aus dem Fenster, um sich ein genaues Bild zu machen. »Was ist passiert? Wo ist die Sonne …?« Der kleine König beschließt, sich das mal von ganz oben anzuschauen. Er läuft die Treppe zu seinem höchsten Turm hoch. Von dort aus kann er rundum das ganze Land sehen, kann Sonne, Mond und Sterne betrachten und … »Nix da Sterne! Die Sonne soll scheinen!«, ruft der kleine König. Aber die Sonne hat andere Pläne. Der Sonnenball wird dunkler, sinkt immer tiefer, taucht die Erde in rotes Licht und verschwindet dann am Horizont.
Das beobachtet der kleine König alles ganz genau und sagt dabei keinen einzigen Ton. Er wartet eine Minute, fünf Minuten, zehn Minuten. Und dann ruft er plötzlich ganz laut: »Was soll das denn, bitte schön? Hat sich die Sonne einfach auf und davon gemacht, ja? Macht mal ein bisschen Ferien und lässt uns hier sitzen? Im Dunkeln? Ja?« Aber dieser Wutausbruch ändert gar nichts, und der kleine König wartet vergeblich auf eine Antwort oder ein Zeichen. Trotzdem bleibt er noch eine ganze Weile auf dem Turm stehen. Vielleicht kommt die Sonne ja doch gleich wieder heraus und lacht ihn an. Und es war alles nur ein kleiner Spaß. – Aber nichts geschieht. Es bleibt dunkel.
»Grete, Wuff, Tiger, Buschel und Pie-hiiips«, brüllt der kleine König hinab. »Wir treffen uns gleich alle im Schlossgarten. Kommt schneeeelll!« Und schon rennt der kleine König in Windeseile die Turmtreppen wieder hinab. Unten warten seine Tierfreunde schon gespannt auf ihn. »Wie-hooo?«, wiehert ihm Grete entgegen. »Waff-waff-waff«, bellt Wuff und versichert, dass er als Wachhund immer bereitsteht. »Es ist was Schlimmes passiert, Freunde. Und du, Wuffi, du kannst nichts dagegen tun! Und die andern auch nicht!« Der kleine König erklärt seinen Freunden, dass die Sonne verschwunden ist und nicht mehr wiederkommen wird. »Wieh-hi-sooo?«, wiehert Grete. Sie versteht nicht, warum die Sonne am nächsten Tag nicht wieder aufgehen soll. Und auch Tiger und die anderen denken, dass morgen alles wieder sein wird wie an jedem Tag. »Aber nein, die Welt geht unter!«, ruft der kleine König aufgeregt. »Jetzt um diese Zeit müsste es nämlich ganz hell sein! Ihr könnt mir glauben, die Uhr sagt es doch auch!« Nach einigem Hin und Her kann der kleine König seine Freunde davon überzeugen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. »Und, was sollen wir jetzt machen? Hat jemand eine Idee?«, fragt er in die Runde. ,Keiner sagt etwas. Und weil man hier im Dunkeln sowieso nichts Anständiges mehr anfangen kann, beschließen alle, jetzt einfach ins Bett zu gehen. Obwohl ja erst Mittag ist. »Ist doch piepegal, wann wir schlafen«, erklärt der kleine König. »Wo es doch jetzt sowieso dunkel ist.«
Es wird für alle keine ruhige Nacht. Sie träumen wilde Sachen und wälzen sich unruhig im Bett hin und her. Mit Sorgen unter dem Kopfkissen kann niemand gut schlafen. Doch am nächsten Morgen kräht der Hahn, die Vöglein singen – und die liebe Sonne scheint wie immer, wenn es Tag wird. Sie schickt ihre warmen Strahlen vom Himmel auf die Erde, so, als wäre nichts gewesen. Schon in aller Frühe hat sie die Schläfer des kleinen Königreichs wach gekitzelt. Sie sind sofort fröhlich lachend, wiehernd und bellend aus den Federn gesprungen und hinaus in den Schlossgarten gelaufen. Dort fassen sie sich an Händen und Pfoten und tanzen ausgelassen im Kreis herum. »Wie-hihiii!«, »Mee-auuu!«, »Tiriliii!«, rufen alle durcheinander. Damit hatte keiner gerechnet. Vor allem der kleine König kann es nicht fassen. »Wo kommt denn die Sonne so plötzlich wieder her?«, wundert er sich. »Und so pünktlich! – Ich weiß, was wir machen, Freunde. Wir gehen jetzt alle ins Schloss und schauen auf die Uhr. Mal sehen, wie spät es ist!«
Gespannt versammeln sich alle vor der Pendeluhr in der Säulenhalle. Der kleine König schaut auf das Zifferblatt und reißt entsetzt die Augen auf. Die Uhr zeigt schon wieder zwölf Uhr an! »Was soll das denn jetzt? Wir haben doch nicht bis mittags geschlafen, das … das kann nicht sein! Hm, sehr merkwürdig …« Der kleine König muss der Sache jetzt wirklich auf den Grund gehen. Er hält sein Ohr an die Standuhr – und hört nichts. »Sie müsste doch … so ein Ticketacke, Ticketacke machen«, sagt er. »Und das Pendel bewegt sich gar nicht! Hängt einfach so rum, das Ding! Ob das gestern auch schon so war?«, überlegt der kleine König. »Könnte schon sein!« Der kleine König denkt nach. »Hm. Also … wenn die Uhr sich nicht bewegt und immer die gleiche Zeit anzeigt, die Sonne aber kommt und geht … dann ist die Uhr schuld!«, ruft er. »Genau. Das heißt: Nicht die Zeit ist stehen geblieben, sondern die Uhr. Mit der Sonne ist alles in Ordnung, die ging so pünktlich wie immer schlafen und hat den Mond zum Aufpassen geschickt.«
Jetzt ist die Freude darüber groß, dass die Sonne weiterhin auf- und untergeht und man weiterhin Wärme und Licht genießen kann. Der kleine König wird diesen Tag im Kalender anstreichen und ihn jedes Jahr als Sonnentag feiern. Er hat sich sogar ein passendes Lied ausgedacht, das er mit seinen Freunden singt:
»Heute war ein schlimmer Tag: Die Sonne, die fiel runter.
Sie plumpste hinten in den See. Ich glaub, dort ging sie unter.
Ob sie jemals wiederkommt? Und noch mal für uns scheint?
Frühmorgens taucht sie auf und lacht: War ja nicht bös gemeint!
Tatsächlich aber kann die liebe Sonne nichts dafür.
Sie steht ganz fest am Himmelszelt. Wer sich bewegt – sind wir!«
➤ Kategorie: Gute-Nacht-Geschichten
➤ Text von Hedwig Munck aus dem Buch "Der kleine König – Das große Geschichtenbuch", www.ellermann.de
➤ Hier können Sie die Geschichte kostenlos downloaden: Sonne, liebe Sonne