Es gibt nicht das gewünschte Abendessen? Brüllanfall. Das Puzzleteil passt nicht? Schreikrampf. Es gibt nach der Kita ein Eis? Freudenschreie, die die Ohren zum Platzen bringen. Gefühlsstarke Kinder reagieren mit besonders heftigen Emotionen auf für uns scheinbar banale Dinge des Alltags. Inwieweit das 'normal' ist, wie ihr eurem Kind helfen könnt und was die Ursachen für die Gefühlsstürme bei manchen Kindern sind, darüber habe ich mit Bestseller-Autorin und Expertin für gefühlsstarke Kinder Nora Imlau gesprochen.
Was sind gefühlsstarke Kinder eigentlich?
Gefühlsstarke Kinder fühlen mehr und zeigen auch mehr von diesen Gefühlen. Was eigentlich gar nicht so verkehrt klingt, schließlich schlucken wir oftmals viel zu viele Emotionen runter, kann für Eltern von gefühlsstarken Kindern ganz schön anstrengend sein. Denn tägliche Ausbrüche von schäumender Wut, aber auch überschäumender Freude können das Familienleben belasten. Nora Imlau hat mit ihrem Buch "So viel Freude, so viel Wut" in Deutschland den Begriff "gefühlsstarke Kinder" geprägt.
"Gefühlsstarke Kinder – so nennt Nora Imlau Jungen und Mädchen, die von Geburt an anders sind als andere Kinder: wilder, bedürfnisstärker, fordernder. Aber gleichzeitig auch feinfühliger, sensibler, verletzlicher. Jedes siebte Kind kommt mit dieser besonderen Spielart der Persönlichkeitsentwicklung zur Welt. Und doch fühlen sich viele Eltern sehr allein, wenn ihr Kind als einziges Baby den Kinderwagen hasst und im Rückbildungskurs nicht auf der Matte liegen mag, auch als Kindergartenkind noch nicht allein einschlafen kann und selbst im Schulalter noch viel Hilfe im Umgang mit seinen heftigen Gefühlsausbrüchen benötigt." ("So viel Freude, so viel Wut" von Nora Imlau)
Wir haben uns mit Nora Imlau zum Interview getroffen, denn das, was da steht, kommt uns so bekannt vor und kostet uns manchmal den letzten Nerv. Geht es euch genauso? Dann schaut unser Interview mit Nora Imlau oben im Video oder lest es unten als Text. So oder so können Nora Imlau und Redakteurin Charoline Bauer euch hoffentlich das Gefühl geben "Ihr seid nicht allein – wir schaffen das!"
Die Infos & Tipps von Nora Imlau zu gefühlsstarken Kindern findet ihr auch noch einmal kurz zusammengefasst ganz unten im Artikel.
Interview mit Nora Imlau zu gefühlsstarke Kinder
Hallo Nora, erzähl unseren Leser*innen doch kurz, wer du bist und was du machst?
Nora Imlau: Ich bin Nora Imlau, Fachautorin für Familienthemen und selber Mutter von vier Kindern. Ich hab verschiedene Bücher für Kinder und Erwachsene zu Familienthemen geschrieben, zu den bekanntesten gehören: “So viel Freude, so viel Wut” über gefühlsstarke Kinder und das Folgebuch “Du bist anders, du bist gut.”
Kannst du beschreiben, was gefühlsstarke Kinder ausmacht?
Nora Imlau: Also, mit gefühlsstarken Kindern meine ich “Diese mehr von allem”-Kinder. Kinder kommen ja auf die Welt und haben bereits so was wie ein angeborenes Grundtemperament. Die ticken unterschiedlich. Es gibt Kinder, die sind von Anfang an total gechillt und sehr, sehr ausgeglichen und die haben eine starke Selbstregulation, sie tun sich leicht mit dem Einschlafen, tun sich leicht mit dem Abschalten. Und diese Kinder nenne ich regulationsstarke Kinder.
Und dann gibt es Kinder, die sind schon bedürftiger, die suchen sehr viel Körperkontakt, brauchen sehr viel Regulationshilfe, aber wenn sie die bekommen, dann sind sie auch ziemlich entspannt und das sind die bindungsstarken Kinder.
Und dann gibt es Kinder, die sind einfach super krass. Die sind extrem wissbegierig und neugierig und schon als kleine Babys oft mit ihren Augen und Ohren überall, nehmen alles in sich auf, sind super interessiert an der Welt, aber gleichzeitig auch ganz schnell, ganz stark überfordert und überreizt von der Welt. Die haben ein sehr, sehr empfindliches Nervensystem, geraten sehr schnell in Stress, können sich also schwer regulieren, brauchen viel Unterstützung von außen. Und diese Kinder bleiben ihre ganze Kindheit lang zerrissen zwischen sehr, sehr unterschiedlichen Bedürfnissen. Die wollen einerseits ganz viel mitkriegen von der Welt, andererseits sind sie ständig überfordert, sind supersensibel und dabei meist total wild.
Diese Kinder haben oft einen geringeren Schlafbedarf als gleichaltrige. Als Baby schreien und weinen sie mehr und sind auch da schon unglaublich willensstark und hartnäckig. Sie lehnen viele Regeln und Begrenzungen ab, brauchen gleichzeitig aber auch eine klare Führung.
Und dieses Temperament ist ein Temperament, das mich besonders interessiert, über das in Deutschland nach meinem Empfinden zu wenig gesprochen wurde. Ich glaube, mittlerweile ist es ein bisschen besser geworden, aber als ich 2018 "So viel Freude, so viel Wut" veröffentlicht habe, war das wirklich so ein Novum, dass es solche Kinder gibt. Das ist kein 'Erziehungsfehler'. Und mir ist es einfach wichtig, Eltern zu sagen:
Ja, diese Kinder gibt's und ihr habt die nicht so gemacht, sondern die kommen so auf die Welt und die müssen genauso sein. Und ihr müsst einen Weg finden, sie gut zu begleiten.
Diese Kinder müssen von uns Skills lernen, zum Umgang mit diesen großen Emotionen, zum sozial verträglichen Ausleben großer Emotionen. Und wir müssen einen Weg finden, wie wir dabei nicht ausbrennen.
Auf der Seite von deinem Verlag, da werden recht konkret acht Merkmale für gefühlsstarke Kinder genannt. Magst du die nochmal hier kurz für uns wiederholen?
Nora Imlau: Es ist so, dass gefühlsstarke Kinder eben unglaublich sensibel sind und sehr, sehr feine Antennen haben. Sie haben gleichzeitig oft einen sehr, sehr hohen Bewegungsdrang, also sind permanent in Aktion. Sie haben tendenziell geringen Schlafbedarf, geringer als Gleichaltrige. Und sie haben oft ein Thema mit Regeln und Grenzen, da sie auf der einen Seite Führung und Regeln brauchen, auf der anderen Seite gegen diese aber auch permanent angehen und rebellieren. Sie haben oft so eine Tendenz zum sehr Grüblerischen, also sie denken sehr viel nach, sind oft kognitiv sehr viel weiter als sie in ihrer emotionalen Entwicklung sind.
Sie haben manchmal auch die Tendenz, so ein bisschen eine pessimistische Art zu haben, also sie sind nicht so diese Sonnenscheinkinder, die alles nur toll finden, sondern sie haben auch oft so eine leicht unzufrieden mit der Welt und ihrem Leben.
Und sie haben ein unglaublich großes Nähebedürfnis, also ein wahnsinniges Bedürfnis der Co-Regulation. Die ganze Zeit, die wollen im Prinzip, dass man sie wirklich wie so ein Co-Pilot durch ihren Alltag begleitet und das wirklich über viele, viele Jahre.
Und da frage ich mich, wie eng diese Definition für gefühlsstarke Kinder ist. Kann mein Kind da auch darunter fallen, wenn es nicht alle Punkte erfüllt? Und wie viele muss es erfüllen? Ab wann fällt es nicht unter gefühlsstark?
Nora Imlau: Also in dem Zusammenhang ist es nochmal wichtig, kurz zu erklären, was der Begriff 'Gefühlsstärke' ist und was nicht:
Gefühlsstärke ist keine medizinische Diagnose. Für eine medizinische Diagnose, wie ADHS oder Autismus oder Legasthenie oder was auch immer, gibt es einen super klaren Kriterienkatalog und eine Diagnostik darf auch nur von entsprechend geschulten Fachleuten durchgeführt werden.
Gefühlsstark ist ein Softlabel und in der Natur solcher Softlabels liegt es, dass sie immer auch eine gewisse Unschärfe haben, denn letztlich beruhen sie ja auf einer subjektiven Beurteilung der Situation. Also ich gebe dir bestimmte Kriterien an die Hand und sage sowas wie "sehr nähebedürftig", aber darunter versteht ja jeder etwas anderes, je nachdem wie nähebedürftig ich selber bin und wie nähebedürftig vielleicht noch ein anderes Kind von mir ist.
Aber wenn du sagst, ich sehe meine Kinder in der Beschreibung total wieder. Ich erlebe es als sehr intensiv und teilweise sehr fordernd. Aber dieses oder jenes Kriterium passt nicht so ganz. Dann würde ich sagen, ja, dann hast du sehr individuelle, gefühlsstarke Kinder, die sozusagen ein intensives Erleben der Welt haben und diese Emotionen auch stark nach außen tragen. Das ist so das wichtigste Kriterium. Auch wenn manche der Untermerkmale nicht 100%ig zutreffen – das ist total normal. Dafür sind wir Menschen einfach zu verschieden.
Im Netz findet man einige Selbsttests gibt. Ich habe einige ausprobiert – und meine Kinder sind laut der Tests absolut nicht gefühlsstark. Ich empfinde das allerdings anders. Daher habe ich mich gefragt, wie sinnvoll solche Tests sind, weil sie ja sehr nach diesem Schema vorgehen. Es werden Kästchen gehakt und das Kind fällt so rein oder nicht. Und ich glaube, so etwas kann für Eltern sehr irritierend sein, wenn sie nach dem Test denken: "Oh, ich habe doch kein gefühlsstarkes Kind, jetzt muss ich weiter suchen."
Nora Imlau: Solche Tests versuchen natürlich immer, das Bedürfnis der Eltern zu bedienen, die sich nach Klarheit sehnen. Tatsächlich gibt es deshalb mittlerweile ganz viele Tests. Davon auch ganz viele, die sich, aus meiner Sicht, sehr weit von meinem originalen Gedanken entfernt haben, als ich "Gefühlsstärke" als Wort und als Idee eingebracht habe. Und in meinem Buch "So viel Freude, so viel Wut" beschreibe ich relativ am Anfang:
"Ich beschreibe Ihnen jetzt einfach mal einen Tag mit meinem gefühlsstarken Kind. Und wenn Sie am Ende dieses Textes Tränen in den Augen stehen haben, weil Sie das Gefühl haben, genau so fühlt sich mein Leben auch an, dann haben Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein gefühlsstarkes Kind."
Und das war mein Weg, zu sagen, bewegt euch von Checklisten, Fragebögen, Selbsttests und Hunderten anderer möglichen Kriterien weg und bewegt euch eher auf die Ebene eures eigenen Erlebens und Empfindens. Wie fühlt sich das denn an, mit euren Kindern zusammen zu sein? Wie erlebt ihr denn eure Kinder im Miteinander? Und da haben die meisten Eltern ein sehr, sehr gutes Gefühl dafür, wie regulationsstark oder bindungsstark oder gefühlsstark ihr Kind ist.
Wir haben schon Neurodivergenz, ADHS und andere Diagnosen erwähnt. Die Grenzen sind da wahrscheinlich sehr fließend. Kann es sein, dass, wenn die Eltern ihrem Kind ein Label "gefühlsstark" geben, die Gefahr besteht, dass sie nicht weiter suchen, ob vielleicht doch eine ADHS-Erkrankung dahinter liegt, einfach weil sie sich vielleicht damit weniger gelabelt fühlen?
Nora Imlau: Also diese Gefahr gibt es ganz allgemein. Wir leben in einer aplastischen Gesellschaft, wo sehr viele Menschen sehr viele Vorurteile gegenüber Krankheiten, Behinderungen, Diagnosen haben und ganz viele Eltern wollen ein Kind, das auf keinen Fall so einen Stempel bekommt, der auch mit einem möglichen Stigma einhergehen könnte. Und natürlich können solche positiv klingenden Softlabels wie Hochsensibilität, Gefühlsstärke, High-Need, etc., dann für viele Eltern eine attraktive Alternative darstellen, ganz nach dem Motto "Mein Kind ist überhaupt nicht krank, das ist einfach nur ganz besonders."
Diese Gefahr gibt es und ich habe sie von Anfang an sehr stark thematisiert und habe da selbst in meiner Rolle als Autorin immer versucht, sehr stark gegenzusteuern. In meinem Buch "Du bist anders, du bist gut" schreibe ich ganz klar, Gefühlsstärke darf kein Grund sein, Kindern eine Diagnostik zu verweigern.
Es gibt sehr viele Kinder, die gefühlsstark UND neurodivergent in einem diagnostischen Kontext sind. Und es ist für die Entwicklung von Kindern und für die Förderung von Kindern sehr, sehr wichtig, dass wenn Eltern das Wissen aus meinen Büchern zu gefühlsstarken Kinder anwenden, also Emotionen begleiten und so, und die Situation aber nicht besser wird, dass sie dann eben auch den Schritt wagen und sagen, wir begeben uns in eine gute Diagnostik.
Weil eben beides gleichzeitig wahr sein kann. Ein Kind kann wunderbar sein und genau richtig und Gefühlsstärke und ADHS haben. Ich finde das ganz wichtig, da nicht in die Scheu vor Diagnosen zu rutschen.
Du hattest vorhin bereits erwähnt, dass gefühlsstarke Kinder schon als Babys vielleicht weniger schlafen oder mehr schreien, aufmerksamer sind. Ab welchem Alter können Eltern erkennen, ob ihr Kind gefühlsstark ist?
Nora Imlau: Wenn Eltern schon ein Kind haben und so ein bisschen dachten, sie wüssten, wie der Hase läuft und dann ihr erstes gefühlsstarkes Kind bekommen, dann sagen sie oft, dass schon die ersten Wochen total anders waren. Und alles, was bei den anderen Kindern immer super funktioniert hat, hat bei diesem Kind überhaupt nicht geklappt. Also, das kann wirklich so eine kleine Krisenerfahrung sein für Eltern. Ich habe meine Kompetenzen und meine Routinen und meine Ideen. Und dann kommt so ein Kind und stellt diese ganzen Überzeugungen auf den Kopf, weil es nicht die Bohne anspricht auf das, was bei den anderen Kindern super geklappt hat.
Und gleichzeitig ist es so, dass Kinder in ihrer Entwicklung unglaublich dynamisch sind. Es gibt Kinder, die kommen auf die Welt und zeigen viele Anzeichen, die man für im Sinne von Gefühlsstärke interpretieren könnte, sie haben aber in Wirklichkeit einfach eher so was wie Anpassungsstörungen, müssen auf der Welt ankommen, weil sie vielleicht eine schwierige Geburt hatten. Und nach drei Monaten oder nach fünf oder nach sieben legt sich das komplett und die sind die ausgeglichensten Kinder auf diesem Planeten.
Es gibt auch viele Kinder, die haben eine sehr intensive Autonomiephase, sind dann sehr wütend und müssen sich sehr abgrenzen, einfach als Teil ihres Entwicklungsplans. Und die Eltern denken, wow, wenn das mal nicht ein gefühlstarkes Kind ist. Und dann kommt das Kind aus der Autonomiephase raus und ist mega entspannt.
Das heißt, so wirklich dauerhaft davon ausgehen, dass ein Kind von seinem Wesen und Temperament gefühlsstark ist, kann man aus meiner Sicht oft erst, wenn das Ende der Autonomiephase naht, also so mit vier, fünf Jahren.
Dann bekommt man im Umfeld mit, ganz, ganz viele Kinder haben jetzt wirklich schon eine Menge Selbstregulation entwickelt und können problemlos alleine einschlafen, bei den Großeltern übernachten und wenn man denen sagt, "Nein, es gibt jetzt kein zweites Eis", dann können die auch mal sagen "Okay, leuchtet mir ein."
Und die gefühlsstarken Kinder, die sind halt immer noch gleich gebeutelt von jeder Frustration und schießen in diese extremen Gefühle von Frustration, Enttäuschung, Wut, Traurigkeit, Bedürftigkeit so rein, das man dann wirklich merkt, dieses Kind hat wirklich eine Herausforderung in Sachen Nervensystem.
Heißt das, dass gefühlsstarke Kinder immer so bleiben? Sie entwickeln sich dennoch weiter, oder? Lernen sie trotzdem auf gewisse Weise sich zu regulieren, wenn vielleicht auch nicht so stark wie andere Kinder? Oder ist es so, dass der 10-Jährige dann immer noch einen Schreikrampf kriegt, weil er nicht den Keks bekommt, wie meine 3-Jährige heute Morgen? Oh Gott, ich hoffe, das ist nicht der Fall.
Nora Imlau: Also grundsätzlich ist es so, dass alle Kinder – gefühlsstark, regulationsstark oder bindungsstark – eine individuelle Entwicklung hinlegen und diese Entwicklung unglaublich dynamisch ist und viel mit dem Thema Hirnreife zu tun hat. Das Gehirn aller Kinder reift in verschiedenen Schritten und Phasen und auch bei gefühlsstarken Kindern findet selbstverständlich diese Gehirnreife statt und hat immense Auswirkungen.
Also im Alter von ungefähr sechs bis sieben Jahren wächst zum ersten Mal der präfrontale Cortex deutlich, der Bereich, wo wir unsere Handlungen steuern lernen und wo wir eine gewisse Impulskontrolle entwickeln. Und das merkt man auch bei gefühlsstarken Kindern, sie haben dann mit sieben Jahren mehr Impulskontrolle, als sie es mit drei hatten oder so.
Aber dadurch, dass gefühlsstarke Kinder an einem anderen Punkt losgehen, mit einer größeren Reizoffenheit, ist es eben so, dass sie tatsächlich immer noch mehr Kraft aufbringen müssen, um diese Impulskontrolle zu aktivieren und es eben auch nicht in jedem Moment schaffen, je nachdem, wie erregt oder erschöpft sie gerade sind und wie viel Impulskontrolle sie an diesem Tag schon geleistet haben.
Wie sind gefühlsstarke Kinder dann in der Pubertät?
Nora Imlau: Gefühlsstarke Kinder entwickeln sich und die typischen Merkmale von Gefühlsstärke verlieren sich mit den Jahren immer mehr. Es gibt sehr viele Jugendliche, die als Kinder sehr auffällig waren in ihrer Gefühlsstärke, die sich mit 14, 15, 16 Jahren relativ problemlos in ihre Peer-Groups einfügen. Einfach weil sie über die Jahre gelernt haben, Kompetenzen zu entwickeln im Umgang mit ihren großen Emotionen.
Gleichzeitig geht man in der Persönlichkeitsentwicklung davon aus, dass dieses hochreaktive Temperament, also einfach dieses sehr leicht reizbare Nervensystem, dieses alle Emotionen sehr extrem fühlen, dass das persistiert, dass das bleibt, als Anteil der Persönlichkeit, sich aber der Umgang damit verändert. Das heißt, auch gefühlsstarke 16-Jährige fühlen viele Emotionen noch intensiver als ihre regulationsstarken Klassenkameraden, aber sie haben eben mit den Jahren Werkzeuge angeeignet, die ihnen helfen, mit diesen großen Emotionen konstruktiv umzugehen.
Welche Gefahren gibt es, wenn ich mein gefühlsstarkes Kind als Eltern nicht richtig begleite?
Nora Imlau: Wir wissen, dass gefühlsstarke Kinder, die diese Begleitung bekommen, die durch ihre Emotionen durchgecoacht werden und die nicht bestraft werden und die nicht angebrüllt werden, weil sie verkehrt sind, dass diese Kinder dann wirklich einen sehr konstruktiven Umgang mit ihren großen Emotionen lernen können. Sie finden oft Ehrenämter, Leidenschaften, Hobbys, Aufgaben in ihrem Leben, wo sie diese ganzen Emotionen in eine konstruktive Bahn lenken können.
Und gleichzeitig wissen wir auch, dass hochreaktive Menschen, die wenig liebevoll begleitet wurden, die viel mit Strafen und mit verächtlich machen groß geworden sind, eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür haben, als Jugendliche z.B. an einer Suchterkrankung zu erkranken. Denn diese ungebändigten großen Emotionen ohne Ventil werden dann irgendwann nicht mehr aushaltbar, sodass für diese Kinder dann z.B. sehr viel Marihuana zu konsumieren, eine sehr attraktive Option wird, um dieses überfordernde Gefühlsleben in den Griff zu bekommen.
Gefühlsstarke Kinder sind tendenziell vulnerabler als nicht-gefühlsstarke Kinder. Das heißt, bei diesen Kindern ist es besonders wichtig, dass die eine gute und liebevolle Begleitung erfahren im Umgang mit ihren Emotionen.
Das ist doch ein schönes Stichwort. Wenn ich jetzt denke, mein Kind ist gefühlsstark, wie gehe ich am besten damit um?
Nora Imlau: Ganz grundsätzlich ist erstmal wichtig, sich klar zu machen:
Mein Kind MACHT kein Drama, es ERLEBT ein Drama.
Wenn ein gefühlsstarkes Kind einen Gefühlsausbruch hinlegt, ob mit einem Jahr, mit zwei oder mit zwölf, dann will es mich nicht ärgern, es ist nicht schlecht erzogen, es provoziert mich nicht, es hat eine Not und diese Not äußert sich in Wut oder Traurigkeit oder Eifersucht.
Diesem Kind geht es gerade nicht gut. Es ist dysreguliert. Es hat ein Problem, weil sein Nervensystem überreizt ist und es dieses Nervensystem gerade nicht selber herunterfahren kann. Und deswegen verhält es sich, wie es sich verhält.
Dieses Verhalten kann manchmal sehr, sehr destruktiv und gemein wirken. Sachen kaputt machen, sich nicht an Absprachen halten. Gemeine Sachen sagen. Das ist nicht cool. Und es ist wichtig, den Kindern hier eine Grenze zu vermitteln: "Nein! Sprich so nicht mit mir! Nein, du darfst nicht das Poster von deiner Schwester zerreißen!" Und gleichzeitig müssen wir hinter dieses Verhalten blicken und sehen, dahinter steht trotz allem ein Kind in Not und ein Mensch, der unsere Hilfe braucht.
Unsere große Aufgabe als Eltern ist es dann, insbesondere bei großen Gefühlen, Regulationshilfen anzubieten. Also zu schauen, wie kriegen wir gemeinsam dieses überreizte, gestresste, überforderte Nervensystem wieder in einen Ruhezustand. Dauerstress ist schädlich für uns. Kinder mit einem hochreaktiven Nervensystem laufen Gefahr, in so einen Zustand des Dauerstresses zu rutschen. Und das führt dann oft zu ganz, ganz schwierigen Verhaltensweisen aus Überforderung.
Wie kann ich mein gefühlsstarkes Kind aktiv regulieren?
Nora Imlau: Wir müssen diesen Kindern ganz konkrete Hilfestellungen an die Hand geben zur Regulation ihres Nervensystems. Diese Regulationshilfen können je nach Kind und je nach Alter verschieden aussehen. Eine sehr, sehr zentrale Regulationshilfe ist Körperkontakt, also in den Arm nehmen, mit ins Bett nehmen, kuscheln, halten, toben, rangeln, küssen, also all das ist regulierend. Für viele kleine Kinder ist stillen eine große Regulationshilfe, genauso auch im Arm liegen und am Fläschchen nuckeln, also Wärme, Geborgenheit, Schutz sind Regulationshilfen.
Eine zweite wichtige Regulationshilfe ist Bewegung, also mit dem Kind verschiedene Formen von körperliche Aktivität explorieren, tanzen, joggen, Trampolin springen, in die Natur gehen, Yoga machen, boxen, denn auch Adrenalin ist eine Regulationshilfe.
Manchmal muss man sich auspowern, um wieder in die Ruhe zu finden.
Stimulation ist eine Regulationshilfe, also Musik hören, Bilder angucken, eine spannende Wissenssendung zusammen schauen, irgendwas erkunden, entdecken, eben Input fürs Gehirn liefern.
Und manchmal ist auch das Wegnehmen von Stimuli eine Regulationshilfe. Also Rückzug aus der Welt in einen Raum, der relativ reizarm gestaltet ist. Wenig Geräusche, wenig Farben, so was wie eine Kuschelhöhle, wo man hingehen kann, wenn die Welt zu laut und zu schnell wird, damit man sich selber spüren kann und seinen eigenen Gedanken wieder zuhören kann, weil die Welt so überfordernd ist. In Ruhe gelassen zu werden, mit mir sein zu können, kann eine Regulationshilfe sein. Du siehst schon, wir haben einen ganzen Strauß an Möglichkeiten.
Gibt es denn ein Erziehungskonzept, wie z. B. Montessori oder Waldorf, das besonders gut oder vielleicht auch besonders schlecht mit gefühlsstarken Kindern funktioniert?
Nora Imlau: Ganz grundsätzlich ist es so, dass viele gefühlsstarke Kinder in ganz klassischen Einrichtungen, ganz normaler Kindergarten, ganz normale Schule gut klarkommen, wenn da entsprechend feinfühliges, zugewandtes Personal ist. Es steht und fällt wirklich mit den Beziehungen. Gleichzeitig gibt es auch gefühlsstarke Kinder, die im öffentlichen Schulsystem nicht gut aufgehoben sind. Das merkt man dann auch relativ schnell. Und dann ist es natürlich gut, nach Alternativen zu schauen.
Es gibt gefühlsstarke Kinder, denen es auf Waldorfschulen sehr, sehr gut geht, denen einfach diese Notenfreiheit, dieses praktische Arbeiten guttut.
Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass Waldorfschulen auf einer bestimmten Geisteslehre basieren, wo dann auch manche Merkmale von Gefühlsstärke durchaus im anthroposophischen Sinne auch als korrigierenswürdig interpretiert werden. Diese Kinder werden dann oft in die Heil-Eurythmie geschickt. Das kann sich für Kinder echt blöd anfühlen, dieses unterschwellige Signal zu bekommen, ich bin nicht richtig so wie ich bin, ich muss jetzt hier geheilt werden von meiner Gefühlsstärke. Und da ist wieder die Frage, wie wird das vor Ort gelebt? Also, wie versteinert sind die anthroposophischen Schulen?
Ich habe auch schon viele positive Erfahrungsberichte gehört habe von Eltern, die ihre gefühlsstarken Kinder auf Montessori-Schulen geschickt haben, weil diese Mischung aus viel Freiarbeit und selbstbestimmtem Arbeiten und gleichzeitig einem festen Rahmen vielen gefühlsstarken Kindern entspricht. Aber auch da, es gibt gefühlsstarke Kinder, die gehen völlig verloren in dieser relativ freien Struktur, würden sich engere Führung wünschen.
Ich glaube, wir sollten als Eltern gar nicht so sehr auf die Labels gucken in der Hinsicht auf die Schulen, sondern wirklich schauen, sind das Orte, die wir als Orte erleben, wo jeder Mensch als Individuum angenommen wird und wo nicht alle Kinder sozusagen das Gleiche im gleichen Tempo auf die gleiche Weise lernen sollen.
Sondern wo wird unserem Kind einen Raum und auch ein Verständnis dafür gegeben, dass es vielleicht manche Lernaufgaben auf andere Weise bewältigen wird als andere Kinder, und dass es ein bisschen mehr Regulationshilfe entlang des Weges braucht.
Aus meiner persönlichen Erfahrung scheinen gefühlsstarke Kinder auch gut an Kitas und Schulen aufgehoben zu sein, wo viel auf körperliche Bewegung geachtet wird. Dass sie Raum haben, sich zu bewegen und sich auszupowern und zu toben.
Nora Imlau: Absolut. Also es gibt auch ganz glückliche gefühlsstarke Kinder in Waldkindergärten, die einfach sehr viel in der Natur sind, sehr viel draußen sind, da rumräubern können. Bewegung ist ein großes Ding und tatsächlich sind Kindergärten, wo wenig Bewegung stattfindet, die nur einen kleinen Garten haben und man nur einmal in der Woche zum Turnraum geht, für die meisten gefühlsstarke Kinder sehr, sehr schwierig.
Vielleicht hast du noch was Schönes, was du Eltern mitgeben möchtest, die an sich zweifeln, weil sie sagen, ich habe ein gefühlsstarkes Kind, ich struggle und ich brauche jetzt einfach was Aufmunterndes. Was kann mich ein bisschen positiver stimmen, wenn ich mit meinem gefühlsstarken Kind in einer Überlastung bin?
Ein gefühlsstarkes Kind zu begleiten, kann sich zwischenzeitlich richtig hart und überfordernd anfühlen.
Und gleichzeitig, glaube ich, dürfen wir nicht unterschätzen, was man dabei auch alles lernt. Also was ich gelernt habe über meine eigene Regulation und mein eigenes Nervensystem, sowie die Regulation durch mein gefühlsstarkes Kind, da hätte ich für viele tausend Euro Seminare besuchen müssen, um mir das anderweitig anzueignen.
Und es ist wirklich so, dass diese gefühlsstarken Kinder bei allem, was manchmal herausfordernd ist, auch so ein Geschenk sind, weil die eben nicht nur diese großen Gefühle in eine Richtung von Wut und Traurigkeit haben können, sondern sie können auch so unfassbar liebesfähig sein und so dankbar und empathisch. Und ich erlebe das mit meinem eigenen gefühlsstarken Kind, das ja mittlerweile schon fast erwachsen ist, das sozusagen, wenn man diese Stürme der Autonomiephase und das Sich-selbst-finden miteinander geschafft hat, was da für eine Persönlichkeit rauskommt, das ist einfach nur toll.
Also alle Kinder entwickeln ihre eigenen Persönlichkeiten und sind toll, aber bei gefühlsstarken Kindern ist es so, dass wenn sie dann älter werden, man oft erst merkt, was da für ein wahnsinniges Potenzial in diesen Persönlichkeiten steckt. Mein gefühlsstarkes Kind ist von allen meinen Kindern das Kind, das mir am meisten rückspiegelt, wie dankbar es dafür ist, dass genau ich seine Mama bin und wie toll es mich findet und wie begeistert es ist von Dingen, die ich tue. Also in einer Weise, wie man das sonst von Kindern nicht unbedingt immer so erlebt.
Mir ist völlig klar, dass wenn man gerade in so einem dunklen Tal ist, dass sich das sehr weit weg anfühlt, weil gefühlsstarke Kinder ja auch sehr schonungslos sein können und einen beschimpfen und sagen "Du bist die blödeste Mama auf der Welt" und so.
Aber wenn wir in die Beziehung zu unseren gefühlsstarken Kindern investieren und auch in schwierigen Zeiten sagen "Das ist ein wunderbares Kind, das gerade eine schwere Zeit durchmacht" dann entwickelt sich da eine ganz besondere Bindung zwischen uns und diesen Kindern und die kann uns sehr, sehr, sehr viel zurückgeben.
Kurz & knapp: Infos & Tipps von Nora Imlau zu gefühlsstarken Kindern
Diese drei Grundtemperamente gibt es nach Nora Imlau bei Kindern
1. Regulationsstarke Kinder haben eine starke Selbstregulation, sind generell eher entspannt, schlafen gut, beruhigen sich leicht, können gut abschalten
2. Bindungsstarken Kinder brauchen sehr viel Regulationshilfe und Körperkontakt zum Runterkommen, sind damit dann aber ziemlich entspannt.
3. Gefühlsstarke Kinder haben ein sehr, sehr empfindliches Nervensystem, geraten schnell in Stress, können sich schwer selbst regulieren, brauchen viel Unterstützung von außen. Sie haben oft einen geringeren Schlafbedarf, schreien und weinen als Babys mehr und sind auch da schon unglaublich willensstark und hartnäckig. Sie lehnen viele Regeln und Begrenzungen ab, brauchen gleichzeitig aber eine klare Führung.
10 typische Merkmale gefühlsstarker Kinder
- Sehr sensibel, mit feinen Antennen für ihre Umgebung und Mitmenschen
- Sehr, sehr hoher Bewegungsdrang
- Tendenziell geringen Schlafbedarf
- Widerwille gegen Regeln und Grenzen
- Brauchen aber Führung und Grenzen
- Tendenz zum sehr Grüblerischen
- Teilweise eine pessimistische Art
- Oft (leicht) unzufrieden mit der Welt und ihrem Leben
- Unglaublich großes Nähebedürfnis
- Wahnsinniges Bedürfnis der Korregulation
Wie gehe ich am besten mit meinem gefühlsstarken Kind um?
Grundsätzlich ist erstmal wichtig, sich klarzumachen: Mein Kind macht kein Drama, es erlebt ein Drama. Wenn euer Kind Hilfe bei der Regulation seiner Gefühle braucht, können je nach Kind verschiedene Ansätze helfen:
- Körperkontakt als Regulationshilfe: in Arm nehmen, kuscheln, halten, toben, rangeln, stillen oder kuschelnd das Fläschchen geben bei jüngeren Kindern (wenn das Kind das möchte) – Wärme, Geborgenheit, Schutz sind Regulationshilfen
- Bewegung als Regulationshilfe: tanzen, joggen, Trampolin springen, in die Natur gehen, Yoga machen, boxen – auch Adrenalin ist eine Regulationshilfe
- Stimulation ist eine Regulationshilfe: Musik hören, Bilder angucken, eine spannende Wissenssendung zusammen schauen, irgendwas erkunden, entdecken, spielen – denn Ablenkung kann eine Regulationshilfe sein
- Das Wegnehmen von Stimuli ist eine Regulationshilfe: Rückzug aus der Welt in einen Raum, der relativ reizarm gestaltet ist, z. B. auch in eine Kuschelhöhle, ein Zelt oder eine Hängeschaukel – denn in Ruhe gelassen zu werden kann eine Regulationshilfe sein