Streit ist ein wichtiger Aspekt der emotionalen und sozialen Entwicklung unserer Kinder – auch wenn es für uns Eltern eher Stress bedeutet, wenn die Kids sich schon wieder zoffen. Expert*innen verraten, wann und wie wir besser eingreifen – und wann wir uns besser zurückhalten. Und wie wir die Kinder beim Streiten dabei unterstützen, fair zu bleiben.
- 1.Warum streiten Kinder ständig?
- 2.Warum ist Streit für Kinder so wichtig?
- 3.Wie verhalten wir uns bei streitenden Kindern?
- 4.Wann eingreifen, wenn Kinder streiten?
- 5.Wie können wir bei streitenden Kindern eingreifen?
- 6.Warum es wichtig ist, keine Aggression vorzuleben
- 7.Warum Regeln für streitende Kinder so wichtig sind
Streiten ist ein wichtiger Aspekt im Leben, in dem Kinder ihren Gefühlen Ausdruck verleihen können und lernen, zu kommunizieren. Für uns Erwachsene ist es wichtig, ihnen diese Chance auch zu geben – und möglichst neutral zu beobachten und eine (emotional) sichere Umgebung zu schaffen. Auch die Ermunterung, Aggressionen in unschädliche symbolische oder kreative Bahnen zu lenken, kann helfen. Das klappt besser, wenn wir uns von unserer eigenen Angst vor Konflikten freimachen und dem Streit nichts Negatives anhaften: Unsere Kids streiten nicht, weil sie böse Absichten haben. Tatsächlich streckt in Streit sehr viel Gutes:
Warum streiten Kinder ständig?
Bei jedem Streit gibt es etwas anderes zu lernen. Beim Streiten üben Kinder:
- Mit gleichaltrigen zu kommunizieren
- Problemlösungskompetenzen
- Soziales Verhalten auszuprobieren
- Ihre eigenen Interessen zu vertreten
- Grenzen zu setzen
- Grenzen auszutesten
- Frustrationstoleranz
Dazu haben sie die Möglichkeit, in andere Rollen zu schlüpfen: Mal starten sie den Streit, mal sind sie eher aktiv oder passiv, mal lautstark und mal ruhig. Und auch, wenn Kinder sich häufig streiten, sieht Diplompädagogin Mechthilf Dörfler durchaus positiv:
Gerade die sozial sehr aktiven Kinder sind es, die häufiger als andere in Streitereien verwickelt sind. Bedenklicher ist eher, wenn Kinder nie in einen Streit verwickelt sind.
Warum ist Streit für Kinder so wichtig?
In der Auseinandersetzung mit anderen lernt man sich selbst und den Gegenüber besser kennen: Ein ängstliches Kind erlebt sich plötzlich als mutig, Stärkere lernen, einmal nachzugeben. Noch mehr lernt man im Streit:
Wie man eigene Grenzen zieht und die der anderen respektiert, wie man sich in andere hineinversetzt und die eigenen Gefühle und Meinung ausdrückt, ohne andere zu verletzen. Und auch, wie man sich nicht unterbuttern lässt und trotzdem eine Lösung für den Streit findet, die allen Beteiligten gerecht wird. Und das müssen Kinder alles üben dürfen.
Streit fördert Kompetenz, Moral, Mut, Kreativität und Loyalität
Auf das Wie des Streitens kommt es an, nicht darauf, wie oft oder wie laut Kinder streiten. Und wenn wir unsere Kinder streiten lassen, gelingen ihnen oft ganz ohne unsere Hilfe beachtliche Lösungen, die genauer verraten, worum es im Streit eigentlich geht. Denn häufig geht es bei genauerem Hinsehen um etwas anderes als um das, was auf den ersten Blick sichtbar wird – oder was wir Eltern in den Streit hineinlesen.
Hinter fliegenden Bausteinen, Gerangel um den Stuhl, gemeinen Ausdrücken und Ähnlichem stecken oft Motive, die für Kinder altersgerecht und typisch sind:
• Wer darf bestimmen?
• Wo stehe ich in der Gruppe?
• Wer darf hier was?
Ganz wichtig dabei: Oft sehen Kinder ihren Streit ganz anders als wir oder nehmen den Konflikt im Nachhinein ganz anders oder gelassener wahr. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere eigene Perspektive nicht aus falschem Gerechtigkeitssinn auf die Kinder projizieren und Probleme sehen, die für die Kinder gar keine sind.
Wie verhalten wir uns bei streitenden Kindern?
Da sich ihr Gehirn und Nervensystem in der gesamten Kindheit noch in der Entwicklung befinden, kann es ihnen dabei schwerfallen, ihre Emotionen zu regulieren. Und ihren Körper zu kontrollieren, damit alle sicher bleiben. Generell ist es gut, den Kids die Chance zu geben, ihren Streit zunächst alleine auszutragen. Aber genauso wichtig ist es, dass wir als Erwachsene beobachten und bereit sind einzugreifen, um die Sicherheit aller zu wahren. Wann genau dieser Zeitpunkt gekommen ist, vom Alter, vom Altersunterschied der Kinder, aber auch von ihrem individuellen Entwicklungsstand und ihrer Persönlichkeit ab.
Wann eingreifen, wenn Kinder streiten?
Der Zeitpunkt, um einzugreifen, ist erreicht, wenn der Streit für beide nicht mehr sicher ist. Wichtig ist, dass wir mit einer wohlwollenden Sichtweise eingreifen: Nicht, um ein Kind zu "verteidigen". Sondern um beide Kinder davor zu schützen, dass Grenzen überschritten werden: Wir greifen ein, bevor ein Kind etwas tut, was es im Nachgang bereuen würde.
Bevor wir in den Streit eingreifen, machen wir uns klar, was unser Ziel des Eingreifens ist: Wollen wir "nur" die Ruhe im Kinderzimmer wiederherstellen oder Regeln durchsetzen? Wollen wir das einzelne Kind stützen oder schützen? Oder wollen wir Kinder befähigen, Konflikte konstruktiv zu lösen und daraus etwas zu lernen?
Streitende Kinder übernehmen schneller die Verantwortung für ihren Streit, wenn wir Eltern aufhören, uns für ihren Streit verantwortlich zu fühlen. Trotzdem ist es wichtig, dass wir das Geschehen genau beobachten und uns selbst an gesunde Streit-Regeln halten. Dann fällt es uns auch leichter, die Details der Situation zu erkennen
• Wer hat hier welches Anliegen?
• Welche Dynamik ist am Werk?
Wie können wir bei streitenden Kindern eingreifen?
Wir können Kindern durch unsere wohlwollende Neutralität dabei helfen, sich fair und konstruktiv zu streiten. Eine gute Möglichkeit, das zu tun, ist, die Konflikte mit den Kindern, aber nicht für die Kinder klären. Also gilt:
So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Hier helfen Methoden der respektvollen Erziehung nach Magda Gerber und der Montessori-Pädagogik:
- Wir nutzen unseren Körper, um eine Distanz zwischen den Kindern zu schaffen oder halten sanft die Hände oder Füße fest, wenn ein Kind dem anderen wehtun möchte. "Ich lasse dich das nicht machen/ihn treten/sie kratzen".
- Wir beschreiben, was wir sehen: "Ella hat dein Buch genommen. Du möchtest es gerne selber lesen." "Freddie hat dein Lieblingsbuch, das macht dich wütend".
- Wir zeigen und sagen, dass die Gefühle okay sind.
- Wir stellen offene Fragen und finden eine alternative Lösung mit den Kindern zusammen, um den Streit zu lösen.
Das empfiehlt auch die Kommunikationstrainerin Heidemarie Götting:
Eskaliert der Streit, muss man sich an eigene Streit-Regeln halten, körperlich dazwischenstellen und dem älteren Kind sagen: "Du hast jetzt gar keine andere Möglichkeiten gesehen als zu schlagen. Der Kleine hat dich jetzt richtig genervt.'"Dann wendet man sich dem Jüngeren zu: "Das hat dir wehgetan, und du wolltest das Spielzeug auch gern behalten." Den Älteren fragen, was hätte er gebraucht, um anders reagieren zu können als zu schlagen? Wichtig ist, keine Lösungen anzubieten, sondern nur Ideen zu sammeln.
Wichtig ist, jeden Streit als isoliertes Ereignis zu betrachten. Wenn wir vergangene Situationen blind auf die aktuelle übertragen, legen wir die Kinder auf ihr Streitverhalten fest und nehmen ihnen damit die Möglichkeit, sich verschieden zu erfahren und eben auch verschieden zu verhalten. Der Mangel an Alternativen erzeugt schnell Aggressionen und der Streit eskaliert.
Aber wie gehen wir Eltern mit der starken Stressreaktion um, die der Streit in uns auslöst?
Streit kann uns Eltern stark triggern, weil er tiefe, teils unbewusste Ängste um die Familie, die Freundschaft oder auch die Sicherheit der Kinder auslöst oder auch längst vergessene Kindheitserfahrungen wachrüttelt. Unser Körper begibt sich dann schnell in den Fight- oder Flight-Modus, in dem unsere Gefühle überhandnehmen.
Wichtig ist es, zu erkennen, dass niemand wirklich in Gefahr ist – und auch wir sicher sind. Tiefes Ein- und Ausatmen hilft, unser Nervensystem zu regulieren. Dann können wir den Blick bewusst auf unsere Sinne richten: Was sehen, fühlen, hören wir? Sind wir überfordert, haben wir immer die Option, kurz den Raum zu verlassen und zu sagen: "Ich fühle mich überfordert, ich brauche eine Minute für mich."
Das ist übrigens eine tolle Strategie aus dem Gentle Parenting, die unseren Kindern vorlebt, wie gesunde Selbstregulation und Kommunikation funktionieren kann. Was es mit der sanften Erziehung auf sich hat, erklären wir kurz im Video:
Warum es wichtig ist, keine Aggression vorzuleben
Uns Eltern werden die lautstarken Streitigkeiten oft einfach zu viel, auch weil wir darin einen Angriff auf unsere Bedürfnisse nach Ruhe und Harmonie erkennen und sie als Rücksichtslosigkeit werten können. Doch damit rücken wir unser eigenes Anliegen in den Vordergrund. Dabei ist es doch nicht unser Streit, sondern der unserer Kinder.
Streit nicht unterbinden
Oft kommt es uns einfacher vor, die Kinder einfach zu trennen und den Streit zu untergraben. Das beraubt die Kids aber ihrer Chance, aus dem Streit zu lernen und zu üben, wie gewaltfreie Kommunikation funktioniert.
Reagieren wir selber aggressiv, beziehen wir den Streit unnötigerweise auf uns und setzen wir den Streit von einer Kleinigkeit unter Kindern auf eine andere Stufe: ein gewaltiger Konflikt mit uns, ihren wichtigsten Bezugspersonen.
Das stiftet nicht zum Frieden, sondern in Gegenteil zum nächsten gewaltsamen Konflikt an, in dem Kinder ihren Unmut oft am anderen Kind auslassen. Denn wenn wir schimpfen, entsteht bei den Kindern ein enormes Verlust- und Schamgefühl, das sich schnell in Aggression niederschlägt. Mehr zur Erziehung ohne Schimpfen lest ihr hier bei uns.
Um einen Streit zwischen Kindern nicht zur Eskalation zu bringen, sollten Eltern besonnen eingreifen – und die eigenen Streit-Regeln beherzigen.
Warum Regeln für streitende Kinder so wichtig sind
Grenzen und Regeln geben unseren Kindern auch beim Streiten Sicherheit. Und den Rückhalt, ihren Standpunkt verteidigen zu können. Deshalb ist Streiten mit Regeln so viel besser für die emotionale Entwicklung für Kinder als künstliche "Harmonie", die Streit komplett unterbindet. Die wichtigste und einzige Regel ist die, den Körper und die Person des anderen zu respektieren. Wird sie beherzigt, sehen wir auch schnell:
Unsere Kinder gehen nach einem Streit schnell fröhlich zur Tagesordnung über. Statt die Kommunikation abreißen zu lassen, liegt ihr Fokus nach einem heftigen Gerangel oft schnell wieder auf intensivem Spielen. In einer sicheren Umgebung können sie sich ihrer Aggressionen bewusst werden, aber das Geschehene positiv werten, wenn sie ihre Gefühle ausleben dürfen und dabei gewisse Regeln einhalten.
Quellen: Berufsverband der Kinder-und Jugendärzt*innen, No Bad Kids (Janet Lansbury), The Sibling Bond (Stephen P. Bank, Michael D. Kahn)