"Kinder sind unterschiedlich veranlagt." Diese weise und sehr richtige Aussage stammt von Thüringens Bildungsminister Helmut Holter. Der Politiker der LINKEN folgert daraus, dass es sinnvoll wäre, die Noten in den "Talentfächern Sport, Kunst, Musik" abzuschaffen. Wenn ihr euch jetzt fragt, wie aus dem einen das andere folgen kann, seid ihr nicht alleine.
Kurz zum Hintergrund: Die rot-rot-grüne Regierungskoalition hat einen Gesetzentwurf zur Änderung des Schulgesetzes des Freistaats vorgelegt. In dem Entwurf ist u. a. der Ausbau der Gemeinschaftsschulen der Klasse 1 – 10 durch Zusammenlegungen von Grund- und Real- bzw. Gemeinschaftsschulen eines Standortes geplant. Schon das entfacht bei Opposition und Akteuren wie dem Lehrerverband und der Landeselternvertretung heftige Kritik.
Viel Lärm um wahrscheinlich nichts
Da die Thüringer Koalition jedoch eine Minderheitsregierung ist, bräuchte sie die Stimmen der Opposition, um aus dem Entwurf wirklich eine Gesetzesänderung zu machen. Die CDU hat schon ihre Ablehnung ausgedrückt, die AfD ebenfalls. Daher bleibt abzuwarten, ob es der Gesetzesentwurf überhaupt durch den Landtag schafft. Vor diesem Hintergrund hat Bildungsminister Holter also verkündet, die Noten in den "Talentfächern" möglichst noch in der aktuellen Amtszeit abzuschaffen, soweit das Kultusministerium mitzieht.
Talent vs. Wissen
Zensuren seien Holter zu Folge in Schulfächern, die einzig das Talent bewerten, nicht nötig. Er erklärt seinen Vorstoß also mit den individuellen Voraussetzungen, durch die in diesen Fächern die Note deterministisch bestimmt wird. Anders gesagt: Entweder kann das Kind turnen, singen und malen oder eben nicht. Dann hat es leider Pech und die daraus folgende mittlere bis schlechte Note würde dem Kind auch noch die Lust an den jeweiligen Tätigkeiten verleiden. Das ist ein sehr klassischer Nature vs. Nature Ansatz, der außerdem den Lehrkräften suggeriert, dass sie zur Entwicklung und Entfaltung der ihnen anvertrauten Kinder wenig beitragen können.
Nature vs. Nurture:
Hinter dieser Phrase steht eine nun schon jahrhundertealte Auseinandersetzung. In ihrem Mittelpunkt steht die Frage, durch was die Fähigkeiten und der Charakter eines Menschen bestimmt werden. Die eine Seite hält biologische – und damit vererbbare – Faktoren für verantwortlich. Die andere hingegen Umweltfaktoren, wie z. B. Erziehung und Umfeld.
Inzwischen gibt es hinreichend wissenschaftliche Beweise dafür, dass es sich tatsächlich um eine Kombination von biologischen und sozialen Einflüssen handelt. Trotzdem gibt es immer wieder Diskussionen darum. Ein beliebtes alltägliches Beispiel für dieses Vorurteil ist, dass jemand sagt, dass er Mathe einfach noch nie verstehen konnte und einfach nicht "dafür gemacht sei".
Oder auch, dass er oder sie "einfach total unmusikalisch" seien und "keinen geraden Ton" halten könne. Dabei ist beides – Mathematik genauso wie Singen – etwas, was man lernen kann. Sicher, nicht jeder kann Opernsänger*in oder Mathe-Professor werden, aber einen geraden Ton singen oder die Prozentrechnung beherrschen ist möglich. Wenn man denn gute Lehrer*innen hat, die wissen, dass Talent nicht alles ist.
Diversität und Empowerment
Ohne Noten, so der Bildungsminister, könnten die Kinder stressfrei die Schönheit der Bewegung und der Kunst entdecken. Auch darin steckt zumindest eine richtige Aussage: Kinder lernen durch selbstständiges Entdecken. Das stellte schon Maria Montessori fest und gründete Schulen. Diese arbeiten nach genau diesem Prinzip und sind bis heute sehr nachgefragt, in Deutschland aber leider nur "staatlich genehmigte Ersatzschulen". Anders gesagt: Privatschulen.
Talent plus Schweiß
Was Bildungsminister Holter mit seiner Forderung auch ausdrückt, ist das Vorurteil, dass Talent alles ist, worauf es im Sport, in der Musik und in Kunst ankommt und die Fächer gleichzeitig nicht so wichtig sind, als dass man die Kinder mit Noten frustrieren müsste. Im Gegensatz zu Deutsch und Mathe. Obwohl es unbestreitbar ist, dass es auch besondere Begabungen für Mathematik oder Sprache gibt, sind diese Unterrichtsfächer so essenziell, dass Talent Nebensache ist und die "weniger talentierten" hier dann einfach härter arbeiten, sprich lernen müssten. Holter geht davon aus, dass mehr lernen in diesen Fächern, dann auch den "schwächeren Schüler*innen" etwas bringt, nach seiner Ansicht bei Kunst, Musik und Sport nicht möglich sei. Eine solche Sicht ist weder divers noch empowernd. Sie wertet die betreffenden Fächer ab. Und negiert den Einfluss von "Nurture" in der Entwicklung von Kindern. Und das ist leider alles andere als progressiv.
Alter Wein, neue Schläuche
Ich unterstelle Bildungsminister Holter jetzt einfach mal, dass er seinen Vorschlag aus lauteren Motiven und in bester Absicht vorgestellt hat. "Er gab sich stets besondere Mühe", hieße das in Zeugnissprache übersetzt.
Halten wir mal fest, welche Thesen der Bildungsminister Ende 2022 aufgestellt hat:
- Kinder sind in bestimmten Bereichen entweder talentiert oder nicht.
- Noten sind in bestimmten Fächern vorherbestimmt – aufgrund des (angeborenen) Talents.
- Musik = Singen, Kunst = Malen, Sport = Bewegen, mit Grazie und Expertise.
- Lehrer haben nichts mit den Noten, sprich Leistungen, ihrer Schüler zu tun.
- "Talentfächer" gehören nicht richtig zum Bildungskanon, sondern dienen der Gesundheitsfürsorge sowie der geistigen Erbauung.
Das sind so verstaubte Ansichten, dass ich eigentlich gar nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Ohne diesen Artikel zu sprengen. Nur so viel: Wenn denn meine Unterstellung zu Motiv und Absicht dieser Idee des Bildungsministers Thüringens stimmt, müsste die entstaubte Schlussfolgerung aus "alle sind anders" und "Noten erzeugen Druck und Frust" nicht heißen: Noten abschaffen? In allen Fächern?
Ebenfalls ein wichtiges Thema für (Grund-)Schüler*innen und ihre Eltern: Taschengeld. Ab wann, wie viel und ob überhaupt? Hier findet ihr Antworten:
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