1. familie.de
  2. Schwangerschaft
  3. Pränatalmedizin: „Das ganze Kind hat so viele Fehler“

Schwangerschaft

Pränatalmedizin: „Das ganze Kind hat so viele Fehler“

marja-kaenguru-240-546919

Sandra Schulz ist im vierten Monat schwanger, als sie die Diagnose bekommt: Ihr Kind wird das Down-Syndrom haben. Mit diesem Befund beginnt ein schwieriger Weg, den Sandra Schulz jetzt in Buchform veröffentlicht hat. Die Geschichte zeigt auf eindringliche Weise, wie unfassbar schwer es ist, eine Entscheidung zwischen Leben und Tod zu treffen. Wir haben uns mit Sandra Schulz über den Weg zu ihrer Entscheidung, über die Schwierigkeiten und Glücksmomente des Lebens mit einem behinderten Kind und über Segen und Fluch der Pränataldiagnostik unterhalten.

Erfahre mehr zu unseren Affiliate-Links
Wenn du über diese Links einkaufst, erhalten wir eine Provision, die unsere redaktionelle Arbeit unterstützt. Der Preis für dich bleibt dabei unverändert. Diese Affiliate-Links sind durch ein Symbol gekennzeichnet.  Mehr erfahren.

Der schwierige Weg zu einer Entscheidung für das Leben

Sandra Schulz ist in der 13. Schwangerschaftswoche, als ihre Ärztin die Worte ausspricht, die ihr Leben auf einen Schlag auf den Kopf stellen. "Ich habe leider kein komplett unauffälliges Ergebnis für Sie". Die Diagnose lautet Trisomie 21. Down-Syndrom. Mit diesem einen Satz bekommt das Wunschkind plötzlich viele Fragenzeichen. Die Welt von Sandra Schulz und ihrem Mann bewegt sich in den darauffolgenden Wochen zwischen der Entscheidung 'Abbruch oder Leben?'. Die ganze Geschichte von dem Tag der Diagnose an erzählt Sandra Schulz in Tagebuchform in ihrem bei Rowohlt erschienenen Buch „Das ganze Kind hat so viele Fehler“.

Anzeige

Die Geschichte einer Entscheidung aus Liebe

Sandra Schulz ist knapp 39 Jahre alt, als sie schwanger wird. Das Risiko ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen, liegt in diesem Alter bei 1:109. Sandra Schulz ist davon ausgegangen, dass sie eine der 109 Schwangeren ist, bei denen alles gut geht. So wie die meisten Frauen, die ohne groß über Eventualitäten nachzudenken, zum Pränatalmediziner gehen. Bei ihrer Recherche im Internet erfährt sie, dass 90 bis 95 Prozent aller Frauen ihr Kind nach dieser Diagnose abtreiben. Ihr Mann Christoph sagt: "Ich wäre stolz, zu den anderen fünf Prozent zu gehören." Abtreiben – oder nicht? Diese Frage steht nun über allem. Und alles ist plötzlich anders. In ihrem Tagebuch schreibt sie im November: "Mein eigenes Kind ist mir fremd geworden. Ich denke: Sie wird aussehen wie andere Behinderte. Sie wird nicht meine Augen haben. Ihr Gesicht wird breit sein, weich." Und weiter: "Ich denke nur noch in Sätzen, in denen das Wort 'nicht' vorkommt. Ich werde ihr nicht meine Büchersammlung vererben. Wir werden nicht über Weltpolitik reden. Wenn ich alt bin, wird sie sich nicht um mich kümmern. Wir werden nicht Großeltern werden". Gedanklich verabschiedet sich Sandra Schulz von dem Kind, das sie nicht haben wird – gleichzeitig versucht sie, sich ihr eventuelles Leben mit einem behinderten Kind vorzustellen. Sie googelt nach Bildern von Kindern mit Down-Syndrom. Und beginnt, Marja auf diesen Bildern zu sehen. Marja, so soll ihr Kind heißen.
Dann wird ihr Leben erneut durcheinandergewirbelt. Der Frauenarzt stellt ein kleines Loch im Herzen fest. Bei der nächsten Untersuchung stellt sich heraus, dass es sich doch um einen komplexen und schweren Herzfehler handelt. Und dann, der nächste Schock, ein Zufallsbefund: Ein Hydrozephalus, ein Wasserkopf. "Das ist Schrott", so der Kommentar eines Mediziners, der sich die Ultraschallbilder ansieht. Ein anderer sagt: "Das ganze Kind hat so viele Fehler."

Zerbrechen wir an dem Wissen, das wir uns gewünscht haben?

Die Eltern schwanken wieder zwischen der Frage 'Tod oder Leben?'. Täglich neu. Und jeder der beiden auf seine Weise. Sie werden mit Aussagen, Meinungen, Mutmaßungen bombardiert. Gewissheiten, die die Eltern sich so sehnlichst wünschen, gibt es nicht. Jeder Experte äußert sich anders zu der mutmaßlichen Entwicklung des kleinen Mädchens. Wirklich helfen kann ihnen keiner. Denn die Befunde sind nicht mehr als Befunde. Aus ihnen lässt sich kein Blick in die Zukunft ableiten.
Die Erkenntnis, alleine über Leben und Tod entscheiden zu müssen, lastet schwer auf ihnen. Dazu kommt die Angst vor einer 'falschen' Entscheidung. Die Möglichkeit für einen Spätabbruch besteht noch immer. Christoph und Sandra wird zunehmend klarer: Egal, welche Entscheidung wir fallen, die Folgen begleiten uns von nun an für unser ganzes Leben. "Es gibt kein richtig oder falsch bei so einer Entscheidung", eine Erkenntnis, die so viel Wahrheit in sich trägt, aber leider nicht weiter hilft. Es gibt nur rechts oder links. Keinen Kompromiss. Kein Ausprobieren. "Ich schaffe es nicht, einfach ja zu sagen." Schlussendlich kommt der entscheidende Satz von Christoph: "Wir treiben doch eh nicht ab". Einmal ausgesprochen bleibt es dabei."Mit jeder neuen Diagnose wächst die Schutzbedürftigkeit meines Kindes. Ich bin ihre Mutter, und die Aufgabe einer Mutter ist es, ihr krankes Kind zu behüten. Nicht, es auszuliefern. Marja hat doch nur mich." Später wird sie sagen: "Ich habe mein Kind nicht aus ethischen Gründen bekommen, sondern aus Liebe".
Fünf Wochen später kommt Marja auf die Welt. Elf Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Aber mit der richtigen Einstellung zum Leben, sie ist bereit zu kämpfen. Und sie kämpft erfolgreich, zwei Herz- und zwei Kopf-Operationen überlebt sie. Bei der ersten ist das kleine Mädchen gerade mal 700 Gramm schwer.

Mama Sandra wird zur Pflegeschülerin und lernt Elektroden zu kleben, Medikamente zu geben und mit dem Stethoskop zu prüfen, ob die Magensonde richtig liegt. Sie ist Gesundheitsmanagerin, Familienmanagerin und Krankenschwester. Zum Mama-Sein bleibt keine Zeit und Kraft, das Leben ist unglaublich anstrengend.
Das ist die eine Geschichte. Es gibt aber eine Fortsetzung, und zwar mit Happy End: Sandra Schulz hat sich getraut zu hoffen - und sie hat Glück gehabt. Marja ist jetzt drei Jahre alt, läuft, lacht und genießt das Leben. Sie ist ein fröhliches Kind mit Down-Syndrom. Viele der medizinischen Prognosen sind nicht wahr geworden.

Buchtipp: Das ganze Kind hat so viele Fehler

Sandra Schulz, Redakteurin beim SPIEGEL, hat ihre Geschichte und die Entscheidung für ihre Tochter in Tagebuchform geschrieben. Herausgekommen ist ein sehr persönliches Buch, das keinen unberührt lässt, ein absolut ehrlicher Bericht – ohne Beschönigung, ohne Selbstmitleid. Die Geschichte zeigt den unglaublichen Konflikt, dem Eltern ausgesetzt sind, die in der Schwangerschaft mit der Diagnose Behinderung konfrontiert werden. Beim Lesen wird klar: Sich unbekümmert auf sein Kind freuen – das ist in Zeiten von 3D-Ultraschall, Nackenfaltenmessung und Bluttest kaum mehr möglich. Keine Schwangere muss all die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik wahrnehmen. Aber fast alle tun es. Weil es so schön ist, das kleine Wesen im Bauch strampeln zu sehen. Und weil sich kaum ein Paar vor der Untersuchung Gedanken macht: Was bedeutet es für uns, wenn es beim Arztbesuch schlechte Nachrichten gibt? Alle Schwangeren sind 'guter Hoffnung' und gehen von einem unauffälligen Ergebnis aus. Was aber, wenn nicht?
Unser Fazit: Das Buch ist definitiv keine leichte Kost, aber wir legen es nichtsdestotrotz jedem ans Herz, egal ob schwanger oder nicht. Die Geschichte zeigt, was im Alltag gerne mal untergeht: Der Wert des Lebens ist unermesslich – und die Entscheidung für das Leben ist schlussendlich eine Entscheidung aus Liebe. Sandras Geschichte ist ihre ganz persönliche Geschichte, aber beim Lesen wird klar: Es könnte die Geschichte von jedem von uns sein.
Das Buch ist über Amazon.de erhältlich.

Sandra Schulz im Gespräch mit familie.de:

➤ familie.de: Wann war Ihnen klar, dass Sie Ihre Geschichte unbedingt als Buch veröffentlichen möchten? Und: Wen und was möchten Sie mit Ihrem Buch erreichen?
Sandra Schulz: Ich habe während der Schwangerschaft angefangen, Tagebuch zu schreiben – kurz nachdem ich von der Diagnose Down-Syndrom erfahren habe. Damals war das Schreiben für mich eine Möglichkeit, mich nicht völlig zu verlieren in diesem Strudel aus Ängsten und Zweifeln. Meine Schwangerschaft bestand nur noch aus Ultraschallterminen und Warten auf Ergebnissen. Im Schreiben habe ich versucht, mich und Marjas Gegenwart festzuhalten. Irgendwann nach Marjas Geburt, als sie auch die letzte Herz-Op überstanden hatte, gab es dieses Gefühl, dass unsere traurige Geschichte ein Happy End hat. Und dieses Gefühl möchte ich gern mit anderen werdenden Eltern teilen: Sich für ein behindertes Kind zu entscheiden, kann glücklich machen!
Zugleich möchte ich zeigen, welche Folgen die medizinischen Fortschritte haben, wie schnell man in Situationen gerät, die man sich vorher so nicht ausgemalt hat. Mein Buch ist unsere sehr private Geschichte – aber das Thema Pränataldiagnostik ist nicht nur eine private Angelegenheit. Ich finde, dass es wichtig ist, dass wir öffentlich darüber diskutieren, was für ein Menschenbild wir als Gesellschaft haben, denn genau das zeigt sich im gesellschaftlichen Umgang mit Pränataldiagnostik. Es gibt schon heute viele Angebote in Arztpraxen für Schwangere, und es werden immer mehr. Doch diese Angebote sind in Wahrheit Erwartungen: Teste und prüfe das Kind, das in dir wächst! Die Frage ist, ob wir diese „Prüfverfahren“ in der Schwangerschaft immer weiter auf die Spitze treiben wollen und welche Konsequenzen wir aus diesem Wissen ziehen. Und wie das eigentlich zu unserem Selbstverständnis passt, dass wir als Gesellschaft Inklusion für ein erstrebenswertes Ziel halten.

➤ Sie schreiben in Ihrem Buch 'Ich werde ihr nicht meine Büchersammlung vererben. Wir werden nicht über Weltpolitik reden. Wir werden nicht Großeltern werden'. Wie haben Sie es geschafft, von den Vorstellungen, die alle werdenden Eltern haben, Abschied zu nehmen?
Sandra Schulz: Zunächst war da große Trauer über das Kind, das ich nie haben werde, und auch viel Wut: Warum muss ausgerechnet ich ein behindertes Kind bekommen? Ich habe nach neuen Bildern von meinem Kind gesucht. Damals war mir noch nicht so klar, warum ich abends im Bett Fotos von Babys mit Down-Syndrom gegoogelt habe. Aber es war wohl so, dass ich mich neu annähern musste an Marja. Mein eigenes Kind war mir plötzlich fremd geworden. Ich bin dann immer wieder zu einer Schwangerschaftsberatungsstelle gegangen und habe dort eine Psychologin kennengelernt, bei der ich all meine Zweifel, meine Wut formulieren konnte. Ich hatte anfangs das Gefühl, dass mein Leben, meine Träume überhaupt nicht mehr zählen, wenn ich mich für mein behindertes Kind entscheide. Geholfen haben mir auch Gespräche mit anderen Eltern von Kindern mit einer Behinderung. Diese Eltern fand ich alle sehr pragmatisch und lebensfroh, sie konnten einerseits meinen Schock nachvollziehen, haben aber andererseits so liebevoll von ihren Kindern erzählt, dass auch ich langsam einen anderen Blick auf unsere Tochter bekam. Ganz wichtig ist natürlich auch, dass man sich gegenseitig in der Beziehung beisteht.
➤ In Ihrem Buch verdeutlichen Sie wunderbar, wie schwierig die Entscheidung für Sie und Ihren Mann war. Was meinen Sie, war schlussendlich ausschlaggebend für Ihre Entscheidung, Ihre Tochter zu bekommen?

Sandra Schulz: Manche Menschen haben mir hinterher gesagt, dass es für sie von Anfang an klar gewesen sei, dass wir Marja bekommen werden. Zum Beispiel meine Ärztin, die mich in den letzten Wochen der Schwangerschaft begleitet hat oder auch eine Freundin. Tatsächlich habe ich mich immer wie eine Mutter verhalten. Ich habe mich geschont nach der Fruchtwasseruntersuchung, damit ich das Kind nicht verliere. Ich habe zwei Abtreibungstermine verstreichen lassen, ich habe keinen Schluck Alkohol getrunken, obwohl ich schon das Formular für den Abbruch aus medizinischer Indikation unterschrieben hatte. Ich habe Marja in Gedanken einen Namen gegeben am Tag nach der Diagnose. Ich konnte mir die ganze Zeit schlicht und einfach nicht vorstellen, wie ich einen Abbruch seelisch überstehen soll. Wenn ich daran gedacht habe, brach die Vorstellung an diesem Punkt ab. In meinem Buch schreibe ich an einer Stelle: Ich handele, indem ich nichts tue. Ich glaube, so war es lange Zeit. Und trotzdem war das Wissen, dass ich einen Abbruch machen kann, wenn ich keinen anderen Weg mehr sehe, auch entlastend: wie ein Notausgang, von dem man weiß, dass er existiert, auch wenn man durch diese Tür im tiefsten Innern nicht gehen möchte. Irgendwann hieß es, dass Marja vielleicht noch im Mutterleib sterben wird – und paradoxerweise habe ich ab diesem Zeitpunkt mit allen Mitteln um Marjas Leben gekämpft.
Wie sind Sie mit der Frage und der Verantwortung umgegangen, ob Ihr Kind bei all den Diagnosen und Prognosen überhaupt ein lebenswertes Leben führen kann?
Sandra Schulz: Bei uns gab es tatsächlich eine Eskalation der Diagnosen. Es kamen immer neue Befunde: erst Trisomie 21 (Down-Syndrom), dann ein schwerer Herzfehler, dann ein Wasserkopf, dann eine drohende Frühgeburt mit etwas mehr als 500 Gramm. Nach der Diagnose Down-Syndrom habe ich mich immer wieder gefragt, was all diese Diagnosen für mich und für mein Leben bedeuten werden. Als die Diagnosen immer schlimmer wurden und klar war, dass Marja schon als Baby einige Operationen brauchen wird, haben wir uns lange mit der Frage gequält, ob es der größere Beweis von Liebe wäre, wenn ich Marja nicht bekäme. Aber ich habe an Marja geglaubt, und sie hat einen wahnsinnigen Lebenswillen gezeigt, schon während der Schwangerschaft, dann nach der Geburt mit 745 Gramm und nach jeder der vier Operationen – immer hat sie gekämpft.
Und heute ist sie ein glückliches, immer noch willensstarkes Kita-Mädchen mit Pferdeschwanz, das aufs Sofa klettert, auf dem Rücken reitet und am liebsten tanzt. Ich kann voller Überzeugung sagen: Marja liebt ihr Leben. Und dass dies so ist, ist ein Geschenk. Es hätte auch anders kommen können. Die düsteren Prognosen vieler Ärzte sind nicht eingetreten, aber sie hätten eintreten können. Diese Unsicherheit in der Prognose steckt im Wesen der Pränataldiagnostik. Es gibt wenig Gewissheiten. Ich weiß aber heute, dass es vermessen ist, für einen anderen Menschen zu definieren, was Glück und was ein lebenswertes Leben ist.
Was raten Sie anderen Schwangeren, die eine schwierige Diagnose für ihr Kind bekommen? Wie können sie – Ihrer Meinung nach – zu einer für sie guten Entscheidung gelangen?
Sandra Schulz: Ich glaube, das Wichtigste ist, sich Zeit zu nehmen für die Entscheidung. Man ist gefühlt in einem ungeheuren Zeitdruck, und zwar einerseits durch die medizinischen Abläufe – bis dann und dann ist noch ein chirurgischer Abbruch möglich, dann muss man den Fötus tot gebären. Andererseits hat man aber selbst das Gefühl, dass man diese Ambivalenz einfach nicht aushält, dass man einen eventuellen Abbruch möglichst schnell hinter sich bringen will. Ich war in einer existentiellen, seelischen Not: Wie soll man sich von einem geliebten Wunschkind plötzlich verabschieden, nur weil es Merkmale hat, die man sich nicht gewünscht hat? Mir hat geholfen, mir über meine eigene Haltung klar zu werden, indem ich mich bewusst fremden Menschen, also Psychologen, anvertraut habe. Später dann habe ich es auch geschafft, Eltern von behinderten Kindern anzurufen und mir von ihrem Leben erzählen zu lassen. Anfangs hatte ich eine große Scheu davor, weil ich dachte: Ich kann denen doch nicht sagen, dass ich so ein Kind wie ihres vielleicht nicht haben will. Auch deswegen habe ich dieses Buch geschrieben, um Frauen in einer ähnlichen Situation zu zeigen: Du bist nicht allein mit deinen Gefühlen. Und man kann große Zweifel und große Enttäuschung spüren, aber irgendwann kehrt die Verbindung zu deinem Kind im Bauch zurück. Angst und Traurigkeit in den ersten Tagen müssen nicht zwangsläufig zu einem Abbruch führen.
Was hat Ihnen während der Schwangerschaft gut getan? Welche Haltung von Freunden hat Ihnen in dieser Zeit am meisten geholfen?
Sandra Schulz: Mir hat geholfen, wenn Menschen unser Kind nicht nur als Kombination von Diagnosen angesehen haben, nicht als nahende Katastrophe, die unser Leben zerstören wird, sondern immer noch als unser Kind, das in meinem Bauch wächst. So eine Haltung zeigt sich in kleinen Dingen. Zum Beispiel hat meine Hebamme ihre Hand auf meinen Bauch gelegt und „Hallo, Marja“ gesagt. Oder eine Ärztin hat beim Ultraschall den Blick auch auf das Schöne, das Liebenswerte, das Individuelle gelenkt. Sie hat nicht nur von den Fehlbildungen gesprochen, sondern auch davon, dass Marja schöne Lippen hat. Das heißt nicht, dass diese Menschen mich unbedingt von einem Abbruch abbringen wollten, sondern es war einfach ein Zeichen von Respekt vor einem Wesen, das wir schon damals geliebt haben. Eine Freundin hat zum Beispiel angeboten, im Falle eines Spätabbruchs und der anschließenden Bestattung des Fötus zur Beerdigung zu kommen. Ich glaube, in so einer Krisensituation hilft unter Freunden das, was immer hilft: versuchen, den Schmerz mit dem Anderen auszuhalten. Mitleid kann schnell beleidigen, weil es den Anderen in der Position herabsetzt, Mitgefühl nie.
Wie haben Sie sich das Leben mit einem behinderten Kind während der Schwangerschaft vorgestellt – und wie sieht Ihr Leben jetzt aus?
Sandra Schulz: In der Schwangerschaft habe ich mich tatsächlich gefragt, ob ich ein behindertes Kind lieben kann. Heute weiß ich, was für eine absurde Frage das ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man ein Kind mehr lieben kann als wir Marja lieben. Ich habe damals wohl auch heimlich gedacht, dass man mit einem behinderten Kind weniger schöne Erlebnisse hat. Auch das ist Quatsch. Wir sind so stolz auf Marjas Fortschritte, die wir vielleicht nicht jeden Tag, aber doch immer wieder sehen: Wenn Marja heute mit ihren drei Jahren allein die Gartentreppe hinuntergeht, wenn sie strahlend ihre Windel zum Müll bringt, wenn sie auf dem Spielplatz allein die Rutsche besteigt und hinunterrutscht, wenn sie mit unserem Nachbarkind, ihrer großen Freundin, Bälle fängt, Bobbycar fährt, Verstecken spielt, dann stehen wir da und klatschen – Marja übrigens auch.

Was leider trotzdem wahr ist: Es ist anstrengend, dafür zu sorgen, dass Marja die Förderung bekommt, die sie braucht. Man ist immer in der Rolle des Bittstellers, es ist eine große logistische Herausforderung, Berufsalltag, Therapien, Bürokratie, Arzttermine unter einen Hut zu bringen, und am Ende erwarten viele, dass ganz selbstverständlich die Mutter sich aufopfern soll für ihr behindertes Kind. Aber das finde ich eine falsche Vorstellung: Zum einen ist das Leben mit unserer Tochter kein Opfer, sondern sehr erfüllend. Zum anderen heißt Inklusion doch auch, dass Familien mit einem behinderten Kind ihren ganz normalen Platz in unserer Gesellschaft haben sollen. Dafür sind bestimmte Strukturen wichtig, die es auch Müttern von behinderten Kindern ermöglichen, berufstätig zu sein, wenn sie das wollen. Therapien wie Physiotherapie und Logopädie sollten deshalb auch in der Kita angeboten werden – leider ist es Glückssache, ob das gelingt. Außerdem wäre es doch schön, wenn man die wenige, verbleibende Zeit am Tag entweder zusammen als Familie oder auch mal zum Kraftschöpfen allein verbringen könnte – zumindest aber nicht mit endlosen Formularen, Briefen und Anträgen an Behörden und Krankenkassen. Ich war jetzt drei Jahre in Elternzeit, habe aber wieder angefangen zu arbeiten, mit einer halben Stelle. Was das Leben mit einem behinderten Kind manchmal schwer macht, ist nicht das Kind, sondern sind die vielen, oft unnötigen Hürden im Alltag.
Sie haben Glück gehabt, darf man das so sagen? Denken Sie manchmal darüber nach, wie Ihr Leben jetzt aussehen würde, wenn die dunklen Prognosen vieler Ärzte wahr geworden wären?
Sandra Schulz: Ja, das beschäftigt mich schon. Aber ich glaube, dass hier ein großes ethisches Problem liegt, das die Fortschritte in der Pränataldiagnostik mit sich gebracht haben – und über das wir alle solange nicht nachdenken, bis wir betroffen sind: Es wird heute den werdenden Müttern suggeriert, dass sie verantwortlich dafür sind, wie es ihren Kindern später geht. Und zwar indem sie erst alles Mögliche testen sollen – und sich im Zweifel eher dagegen entscheiden sollen. Aber die Verantwortung dafür, wie es deinem Kind später geht, kann kein Mensch tragen. Das Schicksalhafte wird heute oft ausgeklammert. Wäre ich schuld gewesen, wenn es Marja heute nicht so gut ginge? Ich hätte mich sicher schuldig gefühlt. Aber das ist eine unaushaltbare Situation, in die die Pränataldiagnostik werdende Mütter bringt: entweder schuldig zu werden, weil du das Leben in dir beendest oder schuldig zu werden, weil du dein Kind leben lässt. Wie soll man sich gut entscheiden?

Nach allem, was Sie erlebt haben: Ist die Pränataldiagnostik Segen oder Fluch?
Sandra Schulz: Beides. Sie ist Segen, weil man zum Beispiel Herzfehler frühzeitig erkennt und die Ärzte sich bei der Geburt darauf einstellen können. Weil Mangelversorgungen im Mutterleib festgestellt werden können und anderes, bei dem es gut ist, wenn man handeln kann. Es gibt aber auch sehr viele Befunde, nach denen es keine Therapie gibt, da führt ein auffälliger Befund allein zu der Frage: Abbruch – ja oder nein? Und dann ist die Frage: Auf welcher Grundlage treffe ich diese Entscheidung? Was habe ich eigentlich als gesichertes Wissen darüber, wie das Leben des Kindes aussehen wird? Und es ist nun einmal so, dass die Bandbreite bei vielen Diagnosen sehr groß ist oder es manchmal gar keine richtige Diagnose gibt, sondern nur eine Auffälligkeit ohne klare Ursache. Die Pränataldiagnostik hat der Schwangerschaft ihre Unschuld genommen, und dieser Prozess wird weitergehen. Deswegen kann man sich nur fragen, wie wir uns alle dazu verhalten, als Gesellschaft und als werdende Eltern. Ich würde Paaren heute immer raten, vorher, bevor man die erste Untersuchung machen lässt, bei einer Beratungsstelle für sich auszuloten, wieviel Wissen man eigentlich erträgt und welche Konsequenz Wissen für einen hat. Wissen ist nicht per se gut – das ist eine schwierige Erkenntnis in unserer Wissensgesellschaft.

Anzeige

Bildquelle: Katrin Probst Photography,privat